Steigende Flüchtlingszahlen belasten Länder und Kommunen. Von einer Krise wolle man aber nicht sprechen, beteuern die politisch Verantwortlichen
Über eine Millionen Menschen sind seit Jahresbeginn 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Inzwischen zieht auch die Zahl der Migranten und Migrantinnen aus anderen Weltregionen wieder stark an. „Eine große Migrationskrise“ gäbe es jedoch zurzeit in Deutschland nicht, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Solche Aussagen würden nur „die AfD stärken“. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, hat indes allein im Oktober einen Anstieg der Asylerstanträge um knapp 28 Prozent gegenüber dem Vormonat zu verzeichnen, rund 24.000 Menschen suchten in diesem Zeitraum in Deutschland Schutz vor Krieg und Verfolgung oder kamen, weil sie sich bessre Lebensbedingungen erhofften. Nicht alle werden bleiben können, doch erst einmal müssen sie menschenwürdig untergebracht und versorgt werden. „Die Situation der Erstaufnahme ist an allen Standorten in Niedersachsen angespannt“, sagt Hanna Hintze von der Pressestelle der Landesaufnahmebehörde (LAB) Niedersachsen. Inzwischen werden die Flüchtlinge auch in Jugendherbergen einquartiert, nach weiteren Gebäuden wird dringend gesucht. Das niedersächsische Innenministerium hat einen Einsatzstab eingerichtet, der weitere Unterbringungsmöglichkeiten finden soll. Derzeit befinden sich rund 9500 Menschen in den niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen. Hintze von der LAB zeigt sich optimistisch: Die Landesaufnahmebehörde werde alle Maßnahmen treffen, damit das Land aufnahmefähig bleibt, versichert sie.
Auch in den Kommunen wird es langsam eng. Der Hannoversche Oberbürgermeister Belit Onay sieht in dem „furchtbaren Angriffskrieg auf die Ukraine“ und den „weltweiten Flüchtlingsströmen“ immense Herausforderungen, auch für die niedersächsische Landeshauptstadt. Doch Hannover lasse niemanden allein, verspricht er. Um eine weitere große Zahl an Geflüchteten aufnehmen zu können, hat Hannover zum zweiten Mal in diesem Jahr große Messehallen als Notunterkünfte vorbereitet. Kamen im Frühjahr Tausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, so werden nun auch vermehrt Schutzsuchende aus anderen Herkunftsländern erwartet. Inzwischen hat die hannoversche Feuerwehr über 200 Zelte in Halle 9 des Messegeländes mit insgesamt rund 2600 Betten errichtet. Eine weitere große Halle steht als stille Reserve bereit, worin noch einmal bis zu 5000 Personen untergebracht werden können. Derzeit beherbergt Hannover rund 6000 Geflüchtete in Städtischen Wohnungen und Gemeinschaftsunterkünften. Bis Ende März 2023 sollen per Landesquote rund 4000 hinzukommen.
Doch Krisenstimmung will man auch in der Landeshauptstadt nicht aufkommen lassen. „Wir sorgen für kurze Entscheidungswege und bündeln die Kräfte“, sagt Ordnungsdezernent Axel von der Ohe. Die Stadt sei daher gut vorbereitet. Man werde die Aufnahme mehrerer tausender Geflüchteter wie bereits im Frühjahr auch jetzt wieder erfolgreich meistern. Ein Mosaikstein in der Flüchtlingsversorgung ist der Kauf der ehemaligen Unfallklinik in der Marienstraße durch die Landeshauptstadt. Der bisherige Eigentümer, DIAKOVERE gGmbh, hat das Gebäude bereits seit April 2022 an die Stadt Hannover vermietet. Der Ankauf erlaube nun eine dauerhafte Nutzung für städtische Zwecke, freuen sich die Verantwortlichen bei der Stadt. Derzeit beherbergt das Gebäude rund 200 Geflüchtete.
Dass indes nicht alles ganz so entspannt läuft, wie man gern nach außen demonstrieren möchte, lässt Oberbürgermeister Onay durchblicken. Das Stadtoberhaupt beschwert sich über eine zu geringe Refinanzierung der Unterbringungskosten durch Bund und Land. Diese sei derzeit völlig unzureichend, es bedürfe einer schnellen Anpassung. Das verstehe er unter „Team Deutschland“, moniert Onay.
Wenn auch nicht von einer „Flüchtlingskrise“, so spricht der Europareferent von Pro Asyl, Karl Knopp, doch zumindest von einer Unterbringungskrise. Man dürfe Frauen und Kinder nicht „wochenlang in Großunterkünften“, wie Zelten oder Turnhallen menschenunwürdig aufbewahren, so kritisiert er laut Augsburger Allgemeiner Zeitung. Stattdessen müssten die Kommunen in die Lage versetzt werden, möglichst schnell menschenwürdige Wohnmöglichkeiten zu schaffen, etwa durch die Bereitstellung von Containern und Modulen. Doch nicht nur der Hannoversche OB Onay, auch andere Kommunen sehen sich an der Belastungsgrenze und fordern, dass die Unterbringung von Geflüchteten, ihre Versorgung und die notwendigen zusätzlichen Kita- und Schulplätze von Bund und Ländern als gesamtstaatliche Aufgabe übernommen werden. Die hohe Zahl Geflüchteter bringe die Städte ans Limit, das sei ein erheblicher Stresstest für die Gesellschaft, stellte etwa die Online-Ausgabe des Handelsblattes bereits im Oktober dieses Jahres fest.
Das milde Wetter, ein Abflauen der Corona-Pandemie und eine größere Durchlässigkeit der sogenannten Balkanroute haben dazu geführt, dass sich in den vergangenen Monaten wieder mehr Menschen auf den Weg in das vergleichsweise sichere und reiche Westeuropa gemacht haben. Serbien etwa hat für Länder wie Burundi, Indien oder Kuba die Visapflicht abgeschafft, das nutzen etliche Migranten, um über Serbien weiter nach Deutschland zu gelangen. Und nicht zuletzt die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, etwa in der Türkei, ist einer der Gründe, warum sich wieder mehr Menschen auf den Weg machen. Die Türkei, Afghanistan und immer noch Syrien sind zurzeit die Hauptherkunftsländer der Geflüchteten. Mit der Zunahme der Fluchtbewegungen nach Deutschland steigt erneut die Anzahl fremdenfeindlicher Übergriffe. Im zweiten und dritten Quartal 2022 wurden bundesweit 46 Angriffe auf Flüchtlingswohnheime registriert, wie die Augsburger Allgemeine berichtet, weit mehr als in den Vorjahren.
Die Ampelkoalition setzt unterdessen auf eine bessere und schnellere Integration der Zuwanderer. Migranten, die zum Stichtag 1. Januar 2023 fünf Jahre als Asylbewerber oder geduldet in Deutschland leben und sich strafrechtlich nichts haben zuschulden kommen lassen, können eine sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen. Innerhalb eines Jahres sollen sie weitgehend frei von Sozialleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten, außerdem muss spätestens nach einem Jahr die Identität geklärt sein. Werden diese Auflagen nicht erfüllt, sollen die Betreffenden in die Duldung zurückfallen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser möchte gut integrierten Migranten darüber hinaus die Chance geben, schneller als bisher die deutsche Staatbürgerschaft zu erwerben. Insbesondere sieht die Planung vor, in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatbürgerschaft zu verleihen, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren seinen „rechtmäßigen“ Aufenthalt im Land hat. Rechtmäßig bedeutet, dass die Betreffenden zumindest über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen müssen. Insgesamt möchte Faeser die Frist für den Erwerb der deutschen Staatbürgerschaft von acht auf fünf Jahre verringern. Außerdem soll die Pflicht auf Verzicht des Heimat-Passes zukünftig wegfallen, die doppelte Staatangehörigkeit daher eher zum Normalfall für Einbürgerungswillige werden. Derzeit gibt es diese Möglichkeit nur in Ausnahmefällen. Erwartungsgemäß ist der Protest der Opposition, von der AfD – aber auch von der CDU/CSU, groß, und auch innerhalb der Koalition kommt Kritik. Bis zur Beschlussvorlage wird es daher wohl noch etwas dauern.
Es ist mithin Bewegung in der deutschen Migrationspolitik, von der Neuzuwanderung bis hin zur Integration bereits hier lebender Migranten. Und im Interesse aller Beteiligten bleibt zu hoffen, dass aus der „angespannten Lage“ nicht doch noch eine neue Migrationskrise wird!