Die Wortblumen von Wilfried von Vorsfelde. Ein sehr später Nachruf

Wilfried von Vorsfelde, mit bürgerlichem Namen Wilfried Schulze, wurde im Jahr 1945 geboren. Seine Eltern betrieben ein Fahrradgeschäft im Wolfsburger Stadtteil Vorsfelde – ein Ort, dessen Name später Teil seines Künstlernamens wurde. Nach dem Abschluss der Hauptschule in seiner Heimatstadt absolvierte er eine Ausbildung zum Postangestellten und war danach in verschiedenen Berufen tätig: Als Postbote, Altenpflegehelfer, Bibliotheks- und Sozialassistent sowie als Hilfsarbeiter. In dieser Zeit entdeckte er seine Liebe zur Literatur, insbesondere zur deutschen Lyrik, und wagte erste eigene Schreibversuche. Seine literarischen Kenntnisse und Fähigkeiten hat er sich weitgehend autodidaktisch angeeignet, ergänzt durch Abendkurse und Fernlehrgänge. Von Vorsfelde orientierte sich seiner Dichtung insbesondere an Paul Celan und Georg Trakl.

Psychische Erkrankung – Reaktion auf existenzielle Konflikte

Wilfried von Vorsfelde litt bereits als junger Erwachsener unter einer chronischen psychischen Erkrankung, die ihn sein Leben lang begleitete. Sein Leiden verstand er als Reaktion auf existentielle Konflikte, zugleich aber auch als eine spezifische Form von Krisenbewältigung.
Die Höhen und Tiefen seiner Biografie – mit ihren hellen wie dunklen Momenten – spiegeln sich deutlich in seiner Dichtung wider. Für von Vorsfelde oszilliert das Wesen des Menschen als auch das Wesen der menschlichen Gesellschaft insgesamt zwischen diesen Seins-Aspekten, zwischen lichten und dunklen Phasen

Von hell bis dunkel. Spiegel des Wesens des Menschen

Als einen schweren persönlichen Schicksalsschlag erlebte Wilfried von Vorsfelde die Trennung von seiner damaligen Lebensgefährtin im Alter von 30 Jahren. Dieses Ereignis hat sein psychisches Leiden verschlimmert und holte ihn in akuten Krankheitsphasen immer wieder ein. Mit persönlichen Krisen, gesellschaftlich-sozialen Entwicklungen und Erscheinungsformen des Zeitgeistes hat er sich in seiner Dichtung auf eine fast seismographische Art und Weise auseinandergesetzt. Roland Balzer, der Herausgeber eines kleinen Lyrikbandes mit Werken von von Vorsfelde, Titel: „Im Morgen der Eisblume“, schrieb über ihn: „Seine Dichtung spiegelt von bisweilen hell bis nicht selten dunkel das Wesen des Menschen ebenso wie das Wesen der Gesellschaft. Sein literarisches Wirken steht in der Funktion eines Wächters der persönlichen, geistigen und weltlichen Wirklichkeit. (…) Manchmal surreal anmutend, immer von präziser Intensität: So präsentieren sich die Gedichte von Wilfried von Vorsfelde; was als Zeit(un?)geist die Innenwelt und Außenwelt von Individuum und Gesellschaft, Traum und Realität, Lebensfrage und Lebenssituation durchdringt.“
Vieles aus seinem Nachlass dürfte verlorengegangen sein. Erhalten blieb das kleine Gedichtbändchen mit dem Titel „Im Morgen der Eisblume“, das 1991 in Roland Balzers Rabenrat-Verlag erschien, der inzwischen nicht mehr existiert. Wilfried von Vorsfelde wirkte in einer kleinen hannoverschen Literatengruppe mit, deren Mitglieder seinem Schaffen großen Respekt und Achtung entgegenbrachten. In seinem familiären Umfeld wie auch in den psychiatrischen Einrichtungen, die er durchlief und die viele Jahre seines Lebens bestimmten, wurde sein künstlerisches Schaffen hingegen oft nicht ernst genommen. Vielmehr betrachtete man seine literarischen Arbeiten häufig als bloßen Ausdruck einer Krankheitssymptomatik, als eine Art spleeniger Nebenwirkung seines psychischen Leidens. Inzwischen ist erwiesen, dass eine besondere literarische Begabung oftmals mit einer höheren Anfälligkeit für psychische Erkrankungen einhergeht. Von Vorsfelde befindet sich mithin in prominenter Gesellschaft mit beispielsweise Virginia Woolf, Franz Kafka, oder seinem Vorbild Paul Celan.
Im Jahr 1991 hat sich Wilfried von Vorsfelde das Leben genommen.

Meine persönliche Begegnung mit Wilfried von Vorsfelde

Ich begegnete Wilfried von Vorsfelde zwischen 1989 und 1991 in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit seelischen Behinderungen, die ich als Sozialarbeiter unterstützte. Es war meine erste Festanstellung nach der staatlichen Anerkennung und ich stürzte mich mit großem Tatendrang und vielen Illusionen in die Aufgabe, die Lebenssituation der Bewohner kurzfristig verbessern und ihr Leiden lindern zu können. Dabei bin ich immer wieder an meine eigenen und an die Grenzen der von mir unterstützen Menschen gestoßen. Das hat nicht zuletzt auch zu Verunsicherungen geführt. Wilfried von Vorsfelde hat das mit seinen hochsensiblen Antennen schnell gespürt und sich mir auf eine manchmal väterliche Art und Weise angenommen: Nie arrogant, nie belehrend, sondern immer mit großem Respekt vor meiner professionellen Position, Verpflichtung und meinem Wirken. Er hat mir erzählend und nicht zuletzt auch anhand seines eigenen Beispiels die Lebenswirklichkeit von psychisch leidenden Menschen nahegebracht. Von Wilfried von Vorsfelde habe ich daher viel über die Dynamik psychischen Leidens lernen können. Gleichermaßen ist es auch mir immer wieder gelungen, ihn über depressive Krisen hinweg zu begleiten, in seiner Selbstwahrnehmung zu stärken und oft auch, ihn wieder in eine fragile seelische Balance zu bringen. Von Vorsfelde hätte gern noch Germanistik studiert. Seine häufigen seelischen Krisen haben ihn indes an der Realisierung dieses Wunsches gehindert. Darunter hat er sehr gelitten.
Wenn von Vorsfelde in eine akute psychotische Episode geriet, ist er mir vollständig entglitten. Auch das musste ich lernen: Zu akzeptieren, dass in einer solchen Situation nur noch eine psychiatrische Notfallbehandlung in der Klinik ihm selbst und auch seinem sozialen Umfeld Schutz geben konnte.
Von Vorsfeldes Selbstmord ereignete sich in einer Zeit des Umbruchs in der Trägerorganisation der Wohngemeinschaft. Innovationen und Strukturveränderungen bestimmten den Alltag. Das betraf auch mich. Mir wuchsen neue Aufgaben zu und ich konnte mich nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor um die WG und deren Bewohner kümmern. Sein Tod hat sich nachhaltig auf mich persönlich und nicht zuletzt auch auf meine weitere berufliche Laufbahn ausgewirkt. Wenn ein Mensch an einer chronischen oder akuten Krankheit stirbt, ist es in medizinischen Institutionen üblich, nach den Ursachen zu suchen, nicht zuletzt, um derartige Todesfälle zukünftig vermeiden zu können. In Psychiatrie und sozialer Psychiatrie scheint das oftmals nicht der Fall zu sein. Der Selbstmord eines chronisch psychisch kranken Menschen dürfte unstrittig als eine krankheitsbedingte Todesursache gelten. Hat man sich in diesem Fall auf die Suche nach möglichen Fehlern und Versäumnissen, sowohl institutionell als auch sozialtherapeutisch bedingter Natur, gemacht? Nichts von dem. Das gehöre eben, leider, zum Alltag in der Psychiatrie, hieß es. Damit müsse man leben. In diesem wie auch ein einigen anderen, ähnlich gelagerten Fällen schien es mir, als blocke man Nachfragen und Ermittlung möglicher ursächlichen Bedingungen ab, aus Angst, man könne persönlich verantwortlich gemacht werden, moralisch oder gar juristisch. Aber auch insgesamt habe ich den Eindruck gewonnen, dass man sich in der einmal so gerühmten Sozial- und Reformpsychiatrie wenig mit den Menschen, deren Hintergründen, Fähigkeiten, Begabungen aber auch traumatisierenden Erfahrungen auseinandersetzt. Es gilt die Prämisse, die Betroffenen zur Alltagsbewältigung zu befähigen, aber eine wirkliche persönliche Tiefe zu vermeiden. Menschen mit psychotischem Leiden gelten als nicht therapiefähig.

Wortblumen in der virtuellen Wortblumenvase

Zwei Jahre nach dem Tod von Wilfried von Vorsfelde, welchem kurze Zeit später noch ein zweiter Suizid in der gleichen WG folgte, habe ich meine Tätigkeit in der Sozialpsychiatrie noch fortgesetzt. Dann kündigte ich und war schließlich in einem anderen Arbeitsfeld tätig.
Wilfried von Vorsfelde, die wenigen Jahre, die ich ihn begleitet habe, sein Tod und seine Kunst, beschäftigen mich bis heute, 34 Jahre später. Inzwischen habe ich gelernt, dass das Sprichwort, demzufolge die Zeit alle Wunden heile, in vielen Fällen nicht zutrifft. Zum Glück konnte ich vor einigen Jahren noch einige Exemplare des Gedichtbändchens von Wilfried von Vorsfelde erhalten. Vielen Dank an den Herausgeber dafür! So stehen einige einer Wortblumen, dunkle und helle, in einer virtuellen Wortblumenvase vor meinem Schreibtisch, und dort werden sie stehenbleiben und immer wieder von mir betrachtet werden, bis mein eigenes Leben endet.

Wilfried von Vorsfelde: Melancholie

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