Kein Zurück nach Kiew

Plötzlich Flüchtling

Anatoly* steht fröstelnd und mit Tüten bepackt vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes am Schützenplatz in Hannover. Es ist der 24. Februar 2022. Um 10:00 sollte sein Flug zurück nach Kiew gehen. Anatoly wollte nur für drei Tage in Hannover bleiben, um etwas Geschäftliches für seinen Arbeitgeber zu erledigen, eine Großschneiderei in der ukrainischen Hauptstadt.

Aber alle Flüge in die Ukraine sind nun gestrichen worden. Erst am Flughafen hat Anatoly erfahren, warum: Russische Truppen haben in der Nacht die ukrainischen Grenzen überschritten, das Land befindet sich im Kriegszustand. Anatoly weiß nicht wohin. Die Bundespolizei hat ihn vom Flughafen zur Ausländerbehörde geschickt. Weil er keinen Termin hat, muss er erst einmal vor der Tür warten. Schließlich kümmert sich ein Sozialarbeiter um ihn.
Die Frage nach dem weiteren Aufenthalt in Deutschland ist schnell geklärt. Ukrainische Staatsangehörige können für 90 Tage ohne Visum in Deutschland bleiben. Um für die kommende Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben, organisiert der Sozialarbeiter für Anatoly einen Platz in einer Notunterkunft. Am nächsten Tag wird sich die Unterbringungsstelle der Landeshauptstadt darum kümmern, wie es weitergeht.

Kalt erwischt

Der kriegerische Konflikt in der Ukraine hat die nord- und mitteldeutschen Großstädte, und so auch Hannover, kalt erwischt. Schon im letzten Jahr sind die Flüchtlingszahlen, nach einem eher geringen Zuwachs in den ersten eineinhalb Jahren der Corona-Pandemie, wieder gestiegen. Seit Anfang 2022 hat sich der Anstieg noch einmal beschleunigt. Über 4000 Flüchtlinge sind in Hannover untergebracht, Tendenz steigend. Die Menschen kommen weiterhin aus den Ländern des Nahen Ostens, aus Afrika und, nachdem die Taliban die Macht im Land am Hindukusch übernommen haben, vermehrt auch aus Afghanistan. Es mussten bereits einige Notunterkünfte wiedereröffnet werden. Und nun auch noch der Krieg in der Ukraine. Mittlerweile hat es viele Kriegsflüchtlinge nach Niedersachsen verschlagen, inzwischen bereits über Tausend allein nach Hannover.

Notunterkünfte wie in der Flüchtlingskrise 2015

Anfangs hieß es, alle ukrainischen Flüchtlinge sollen sich in die niedersächsische Erstaufnahmestelle in Fallingbostel begeben, um sich dort registrieren zu lassen und dann weiter auf die Kommunen verteilt zu werden. Davon ist man jetzt wieder abgerückt. Die niedersächsischen Städte und Gemeinden werden diese Aufgabe selbst stemmen.
In Hannover wurde für diejenigen, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen können, eine Notunterkunft am Messegelände eingerichtet. Rund tausend Schlafplätze sind dort entstanden, teilt die Pressestelle der Landeshauptstadt Hannover mit. Bereits Anfang März waren mehrere Busse mit 400 Geflüchteten aus der Ukraine auf dem Messegelände angekommen.
Das alles erinnert an die noch nicht lange zurückliegende Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016. Oder auch an die Zeiten des Jugoslawienkrieges in den 1990er Jahren, als Hunderttausende Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen. Damals wurden die Menschen jahrelang nur geduldet und hatten über Jahre keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Die Arbeitsaufnahme war nur in besonderen Ausnahmefällen erlaubt. Für viele bedeutete das nach den traumatisierenden Kriegerlebnissen eine zusätzliche Belastung.

Dazu gelernt: Sicherer Aufenthaltsstatus für Ukrainer

Inzwischen haben die Länder der EU dazu gelernt. Im Juli 2001 wurde eine sogenannte Massenzustrom-Richtlinie beschlossen, die, wie es heißt, „vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“ sicherstellen soll. Auf dieser Grundlage werden die meisten der vor dem Krieg geflüchteten Ukrainer eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes bekommen.
Die ukrainischen Flüchtlinge stehen über Nacht oft im wahrsten Sinne des Wortes vor den Trümmern ihrer bisherigen Existenz. Die Spenden- und die Aufnahmebereitschaft ist auch in Niedersachsen groß. Allein die Landeshauptstadt Hannover hat sich bereit erklärt, für die Unterbringung und Versorgung der Menschen bis zu 10 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Am meisten hilft den Vertriebenen und Gestrandeten jetzt aber Besonnenheit und eine schnelle Einigung der Konfliktparteien, damit so bald wie möglich eine sichere Rückkehr möglich ist.

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