Ein Bahnhof ist mehr als ein Ort der Ankunft und Abfahrt. Er ist eine Bühne, auf der sich das urbane
Leben in all seinen Gegensätzen zeigt. Hier, vor dem südwestlichen Nebeneingang des Hauptbahnhofs,
sitzt ein Mann in einer abgewetzten Jacke auf dem kalten Boden. Seine Habseligkeiten passen in eine
Plastiktüte. Um ihn herum etwa ein Dutzend Männer und Frauen in teils zerschlissener und schmutziger
Kleidung, die sich lautstark mit heiseren Stimmen Worte und Satzfetzen in einer osteuropäischen
Sprache zurufen. Ein leichter Uringeruch vermischt sich mit Alkoholdünsten. Müll und leere Flaschen
liegen herum. Von irgendwoher krächzt aus scheppernden Lautsprechern schrille Musik. Die Schritte der
vorbeieilenden Passanten werden hier schneller.
Auf den großen Glasscheiben neben den Eingangstüren zeigen sich Sprünge und Risse, die auf stärkere
Gewalteinwirkung hindeuten. Hier versammeln sich die Abgehängten unterschiedlicher Herkunft – sie
sind der elende Kontrast zu den Geschäftsleuten, Familien, Reisegruppen und Konsum-Flaneuren, die
zum Shoppen mal eben einen kleinen Abstecher zum Bahnhof machen.
Der Bahnhof ist ein Ort permanenter Bewegung und zugleich ein Ort des Stillstands für jene, die nicht
weiterkönnen. Er ist Treffpunkt und Durchgangsstation, öffentlicher Raum und kommerzialisierte Zone,
Ort der Begegnung und der Verdrängung. Wer hier verweilt, tut dies entweder, weil er es sich leisten
kann, unterwegs ist, nirgendwo anders einen Platz hat oder in diesem Gewimmel seine Botschaft unter
die Leute bringen will – wie die Zeugen Jehovas, die mit Rollwagen und kleinen Ausstellern vor dem
Abstieg in die untere Passage stehen und den Leuten ihre Zeitschrift „Wachturm“ entgegenstrecken.
Kaum jemand kümmert sich um sie.
Die Frage ist: Wem gehört der Bahnhof? Den Konsum-Flaneuren, den Elenden, den Geschäftsreisenden,
die mit gesenktem Blick auf ihre iPhones oder Laptops starren? Den Durchreisenden, die mit ihren
Rollkoffern über den Boden klackern? Den Obdachlosen und Elenden vor dem Nebeneingang? Oder dem
Straßenmusiker, der sich mit der Gitarre zu einem alten Popsong begleitet, während die
Lautsprecherdurchsage über die nächste Zugverspätung informiert?
Er gehört ihnen allen. Sie sind die Schatten, die das Leben der Stadt auf diesen Ort des Durchgangs und des
Flüchtigen wirft.
