Richter und Rentner

Über einen der langen Flure im Amtsgericht Hannover schlurft ein kleiner, etwas untersetzter Mann mit runzeliger Nase und ungesunder rötlicher Gesichtsfarbe, der das Alter von 60 Jahren bereits deutlich überschritten zu haben scheint. Vor dem Sitzungssaal 2236 des Strafgerichts schaut er auf den Verhandlungsplan. „Wat gibt es denn wieder Spannendes?!“ murmelt er vor sich hin.

„Kommt ihr wegen Siecken?“
Außer ihm haben sich hier noch einige angehende Journalisten eingefunden, die über den heutigen Verhandlungstag etwas zu Papier bringen wollen. Ob sie wegen Richter Siecken kämen, will der Alte von ihnen wissen. Kopfschütteln.

Der Richter und seine Öffentlichkeit
Der Alte mit der runzeligen Nase lässt die Umstehenden wissen, dass er Rentner sei und hier die Öffentlichkeit repräsentiere. Er gehört zu jenen Ruheständlern, die sich ihre Langeweile im Gerichtssaal vertreiben und einen spannenden Live-Prozess zu schätzen wissen. Das Original ziehe er jenen nachgestellten Gerichtsshows allemal vor, die während früher Nachmittage auf einigen privaten TV-Kanälen über die Mattscheiben flimmern.

Gerichtssaal und Richterpult

Die Tür zum Sitzungssaal öffnet sich und Richter Siecken betritt das Parkett. Während der Rentner und ein inzwischen dazugekommener zweiter Mann, ebenfalls fortgeschrittenen Alters, etwas missmutig dreinschauen, weil es ihnen in den Besucherreihen zu eng geworden ist, scheint sich Siecken über das unerwartet große Publikum zu freuen. Er lächelt in den Saal und erkundigt sich süffisant nach dem Grund für dieses Ereignis. „Ach, sie kommen von der Journalistenschule“, nimmt er belustigt zur Kenntnis.
Ein Typ, wie aus der Kneipe von nebenan
Richter Dr. Hans-Jochen Siecken ist ein Mann zwischen Mitte 50 und Anfang 60 mit Kinnbart und Bartstoppeln, dessen fast weißes Haar eine Aura von Amtswürde verkörpert. Andererseits verleihen ihm die Bartstoppeln eine gewisse Laszivität. Der Mann hat etwas jovial Väterliches. Es ist ein Typ, den man in der Kneipe ohne weiteres um eine Zigarette bitten oder in ein Gespräch verwickeln würde.
Auch heute muss Richter Siecken über mehrere Delinquenten zu Gericht sitzen. Dabei geht es um Ladendiebstahl, Haschischverkauf, Drogenabhängigkeit und Beihilfe zum illegalen Aufenthalt in Deutschland. Die Staatsanwaltschaft wird von einem jungen Gerichtsreferendar vertreten, der offensichtlich nervös ist, seinen Kopf auf den Ellenbogen stützt und dabei wie ein Vogel Strauß immer wieder den Hals hin und her reckt.
Richter Siecken genießt die Aufmerksamkeit des Publikums und inszeniert seine Verhandlungsführung als Live-Show, indem er die trockene Juristerei des Strafprozesses immer wieder versuchsweise mit kleinen Gags garniert. „Wenn wir hier schon mal einen türkischen Mitbürger sitzen haben, dann können wir es auch so machen wie auf dem türkischen Basar“, schlägt er im Zwiegespräch mit einem Rechtsanwalt über das mögliche Strafmass für dessen Mandanten vor. Als die Protokollantin zum Energiedrink greift, nimmt er das Etikett des Getränks ins Visier und fährt sie scherzend an, sie solle sich doch einmal etwas Deutsches kaufen. Und so beeindruckt weniger die Qualität seiner Scherze als vielmehr die unerwartete Flapsigkeit in Richterrobe. „Ach, wäre ich doch nur beim Finanzgericht geblieben, entfährt es ihm, als er plötzlich das Fehlen einer wichtigen Akte bemerkt. In der Verhandlungspause zündet sich Siecken erst einmal behäbig eine Pfeife an. Rauchverbot in Gerichtsräumen? Nicht für Siecken, schließlich über er hier das Hausrecht aus. Nein, nein, wendet er sich direkt an das Publikum, ans Finanzgericht wolle er natürlich nicht zurück. Das sei die reine Aktenarbeit dort, hier im Strafprozess hingegen sei es viel spannender, man treffe soviel unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen.
Hart aber hemdsärmelig
In der Verhandlungsführung gibt Siecken sich hemdsärmelig und pflegt das Image des wohlmeinenden Patriarchen. „Das war ein deutliches Fehlverhalten, ein deutliches“, belehrt er den Verkehrssünder streng. Der Delinquent, ein arbeitsloser kaufmännischer Angestellter von 50 Jahren, beteuert kleinlaut, er habe gerade eine Außendienststelle in Aussicht und brauche daher dringend seinen Führerschein. Siecken lässt Gnade vor Recht ergehen. Er verdoppelt die Geldstrafe und verzichtet auf den Führerscheinentzug. „Wir wollen ihm ja wegen einer einmaligen Übertretung nicht die Zukunftsaussichten zerstören.“ So ist er, der Richter Siecken: hart aber gerecht. Und auch als es über den Haschischverkäufer zu richten gilt, zeigt er väterliche Milde, denn die gesundheitliche Gefährdung durch Haschisch sei doch unter Mediziner sehr umstritten. Und außerdem würden heute ja alle Jugendlichen schon mal zum Joint greifen. Selbst die „Frucht seiner Lenden“ habe auch ihn mal zum Genuss eines Gebräus mit Marihuana verleiten wollen. Nun, dass sei aber verjährt, fügt er beschwichtigend hinzu.
Gags bis an die Grenze der Pensionsberechtigung
Für seine Fans scheut Richter Siecken sich nicht, bis hart an die Grenzen der Pensionsberechtigung zu gehen. Nicht nur für Gerechtigkeit fühlt er sich hier scheinbar verantwortlich , sondern auch für gute Unterhaltung. Sein treuer Fan, der Rentner, schlurft den nach staubiger Amtsstube muffelnden Korridor entlang Richtung Ausgang. Kurz wendet er sich noch einmal um. „Mittagspause“, ruft er gutgelaunt den anderen Besuchern zu.

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