Mystik und Müll

Ein süßlich modriger Geruch liegt in der Luft. Neben unverputzten zwei- bis vierstöckigen Häusern reihen sich armselige Baracken, zusammengezimmert aus alten Brettern und Wellblech, bedeckt mit Plastikplanen, Pappe und Strohmatten.

Müll in Kairo
In den schlammigen Straßen türmen sich Berge von Müll. Der Abfall ist allgegenwärtig. Hier, im Stadtteil Moytamadea der ägyptischen Metropole Kairo, leben mehrheitlich christliche Kopten. Sie sind die Müllsammler der Stadt.

Müllsammler
Kopten sind die Müllsammler in der ägyptischen Metropole Kairo

Berge von Müll faulen vor sich hin
Zwischen Blech, Glas, Plastikflaschen, Papier und Stoffresten faulen Fleisch- und andere organische Abfälle vor sich hin. Schweine und Ziegen wühlen nach Essbarem, die Schnauzen im Unrat vergraben. Kinder und Erwachsene sortieren Gegenstände aus dem Müll, errichten hier einen Haufen aus alten Blechen, dort einen aus Plastikabfällen, daneben einen anderen aus Glasresten. Viele von ihnen haben eitrige Ekzeme an Händen und Gesichtern. Auf morschen Eselskarren, Kleinlastern oder den Gepäckträgern rostiger Fahrräder wird immer neuer Unrat in großen Plastiksäcken herangeschafft.
Das Kairoer Müllviertel liegt am Rande der Mokattam-Berge. Hier befindet sich die Höhlenkirche des heiligen Samaàn. Der einzige Weg dorthin führt durch Moytamadea. Alle die kommen, müssen durch die Müllstadt. Europäer, die diesen Ort besuchen, bewegen sich abseits der Touristenpfade. Denn in den meisten Reiseführern findet der Weg durch das Müllviertel hinauf zur Felsenkirche keine Erwähnung.
Die Höhlenkirche von Samaàn
Steil ragen die hellen Felsen in die Höhe. Auf einer Anhöhe oberhalb des Viertels befindet sich ein von Klippen umrahmter Platz. Bis zu zwei Meter hohe Reliefs mit den Darstellungen von Heiligen und biblischen Motiven sind über die weiß bis hell-rötlich schimmernden Felsen verteilt. Weiter hinten ist ein mehrere Meter breiter Eingang zu sehen. Er führt in eine riesige Kirche, die hier in den Kalkstein gehauen wurde. Abschüssig auf den Altarraum zulaufend sind im Halbkreisen Bänke aufgestellt. Die Szenerie erinnert an ein griechisches Amphitheater. Bis zu 15.000 Menschen kann die Höhlenkirche aufnehmen. Links und rechts vor dem Altarraum gibt es kleine Säulengänge, geschmückt mit Kreuzen und Ikonen. In einem Glaskasten werden Reliquien des Schutzheiligen aufbewahrt. Für die Gläubigen ist dies ein heiliger Wallfahrtsort. Der Legende nach hat der Heilige Samaàn das Christentum in Ägypten vor dem Untergang bewahrt. Durch ein Wunder habe er den Berg gespalten und den arabischen Eroberern damit die Kraft des christlichen Glaubens vor Augen geführt.
Die Menschen suchen die Nähe zu ihren Heiligen. Sie knien vor den Bildern, berühren und küssen sie. Die Heiligen und der Glaube an ihre Kraft, der Glaube an Wunderheilungen und Erscheinungen ist hier sehr präsent. Die Höhlenkirche gehört zu einer größeren Klosteranlage, die erst seit den siebziger Jahren wieder genutzt und seither mit Spendengeldern wohlhabender Kopten baulich rekonstruiert wird.
Nachfahren der alten Ägypter
Mit etwa zehn bis zwölf Millionen Gläubigen bildet die koptische Kirche in Ägypten die größte christliche Glaubensgemeinschaft im Nahen Osten. Während der Anteil der koptischen Christen an der ägyptischen Bevölkerung insgesamt auf knapp zehn Prozent geschätzt wird, sind sie im Wirtschaftsleben überproportional mit etwa 20 Prozent vertreten. Die Kopten verstehen sich als die Nachfahren der alten Ägypter, die der Islamisierung des Landes im 7. Jahrhundert trotzten. Als ihren Kirchengründer betrachten sie den Apostel Markus, der 62 Jahre nach Christus in Ägypten missioniert haben soll. Im Jahr 451 trennte sich die koptische Glaubensgemeinschaft von der orthodoxen Kirche in Byzanz. Anlass der Trennung war ein Glaubensstreit. Mit der Auffassung, dass sich das göttliche und das menschliche Wesen in der einen Natur Jesus Christus’ verbunden habe, grenzten sich die Kopten sowohl gegen Rom als auch gegen Byzanz ab. In der orthodoxen und katholischen Kirche gilt bis heute die Lehre von den zwei Naturen Jesus’, der göttlichen und der menschlichen zugleich.
Der koptische Papst
Der Patriarch der koptischen Kirche führt seit alter Zeit den Titel „Papst.“ Er residiert in Alexandria. Derzeit hat Seine Heiligkeit Shenouda III. dieses Amt inne. Seit der ehemalige Präsident Sadat das Land in den siebziger Jahren zu einem islamischen Staat erklärte, fühlen sich viele Angehörige der christlichen Minderheit benachteiligt. Positionen in öffentliche Ämtern bleiben den Kopten häufig verschlossen, hier sind sie lediglich mit 1,5 Prozent vertreten.

Der koptische Papst
Das Oberhaupt der Koptischen Kirche: Seine Heiligkeit Papst Shenouda III., Papst von Alexandrien und Patriarch des Stuhles vom Heiligen Markus, seit 1972 der 116. Nachfolger auf dem Patriarchenstuhl des Hl. Markus.

Obwohl für Ägyptenbesucher in der Regel wenig von den Spannungen zwischen Kopten und Muslimen zu spüren ist, kam es im letzten Jahrzehnt immer wieder zu Anschlägen auf Christen und christliche Einrichtungen. Zwar sind diese Überfälle seltener geworden, doch viele Angehörige der Minderheit fühlen sich nach wie vor in Ägypten nicht sicher. Von offizieller Seite soll indes der Eindruck vermieden werden, der Extremismus sei nicht unter Kontrolle. Ebenso wie vor touristischen Einrichtungen ist die Polizeipräsenz auch vor Kirchen oder um die koptischen Wohnviertel herum besonders hoch. Seit die Attacken zunehmen, scharen sich die Kopten enger um ihre Kirche und bringen dies auch äußerlich zum Ausdruck. Viele lassen sich ein kleines blaues Kreuz auf die Hand tätowieren. Die Religion gewinnt eine zunehmende Bedeutung als Identitätssymbol.
Koptisches Mönchtum erlebt eine Renaissance
Der Einfluss der Kirche auf das Leben der Menschen steigt und so erfährt auch das koptische Mönchtum eine Renaissance. Verlassene und verfallene Klöster werden wieder in Besitz genommen, restauriert oder neu erbaut. Ägypten ist das Ursprungsland des mönchischen Lebens und mit dem Christentum eng verbunden. Der sowohl von den Kopten als auch von orthodoxen und katholischen Christen verehrte Heilige Antonius gilt als der erste christliche Eremit und Begründer dieser gottgeweihten Lebensform. Im 4. Jahrhundert zog er sich in die Einsamkeit zurück. Das Antoniuskloster liegt einige hundert Kilometer südlich von Kairo in der Wüste. Die Ursprünge des Klosters sollen noch auf die Einsiedelei des Heiligen selbst zurückgehen.
Bruder Jusuf kümmert sich um die hier eher seltenen ausländischen Gäste. Früher war er Apotheker in Kairo, vor sechs Jahren begab er sich in die Abgeschiedenheit des Klosterlebens. Er trägt eine grobgewebte schwarze Kutte und die für koptische Mönche typische Wollmütze. Seit die Kirchen in Ägypten wieder einen größeren Zulauf hätten, entschieden sich so wie er auch andere Akademiker für den Rückzug ins Kloster, erzählt der fromme Mann den Reisenden auf deutsch. „Die Mönche haben in Ägypten ein sehr großes Ansehen. Das liegt hier stärker in der geistlichen Tradition“, sagt Bruder Jusuf. Für viele Gläubige gehöre es wie selbstverständlich zum religiösen Leben, die Klöster aufzusuchen. Dadurch komme bei einigen der Wunsch auf, selbst Mönch zu werden. Nachwuchsprobleme gebe es nicht. Jusuf stellt Ikonen her. „Das bedeutet Kontemplation“, sagt er. Es gehe nicht darum, die Ikonen zu verkaufen, sondern sich in die Malerei von Christus- und Heiligenmotiven zu versenken.
Linsensuppe zum Frühstück
Klosteranlagen und Wüstensand verschwimmen farblich miteinander in einem hell-rötlich lehmigen Ton. Quaderförmige Bauten mit kleinen flachen Kuppeln ragen aus dem Wüstensand empor. Dicke Backsteinmauern sollen das Klosterinnere vor der flirrenden Wüstenhitze schützen. Ein großer Teil der Anlagen wurde kellerförmig in die Erde gebaut. Nur wenig Licht dringt aus den kleinen Fensteröffnungen herein. Einige der Gemäuer sind Hunderte von Jahren alt, andere erst kürzlich wiedererrichtet worden. Ausländer brauchen ein Empfehlungsschreiben des Patriarchats in Kairo, um hier übernachten zu können. Die Schlafräume sind spärlich mit einfachen Bettgestellen aus Holz, wackligen Tischen und Stühlen möbliert. Morgens und abends reichen die Mönche ein kleines Gastmahl aus Fladenbrot, Ziegenkäse, Oliven und Linsensuppe.
Bereits kurz vor sechs Uhr morgens kommen die ersten Busse zum Kloster. Sie bringen Gläubige heran, die in der Frühe am Gottesdienst teilnehmen wollen. Der Besuch des Klosters sei für die Gläubigen wichtig, um den Kontakt zu ihrer Kirche herzustellen, erklärt Bruder Jusuf. Daher gäbe es unter den Anreisenden auch viele Auslandsägypter, die ihren Aufenthalt im Herkunftsland dazu nutzten, ein Kloster zu besuchen.
Weihrauchschwaden durchziehen die nur spärlich beleuchtete Klosterkirche. Der Gottesdienst besteht aus einer Vielzahl von liturgischen Gebeten, klagend anmutenden Heiligenlitaneien und anderen Gesängen. Wenig haben diese orientalischen Klänge mit der heutigen Musik in westlichen Kirchen gemein. Höhepunkt ist die Heilige Kommunion. Die sakralen Handlungen, etwa die Weihung des Brotes und des Weines, werden von den Priestern hinter einer mit kirchlichen Malereien bedeckten Holzwand, der Ikonostase, vollzogen. Den Augen der Gemeindemitglieder bleibt der eigentliche Altarraum verborgen. Mit einem großen silbernen Kelch kommen die Mönche und Priester hinter der Altarwand hervor. Andächtig schreiten die ägyptischen Gottesdienstteilnehmer nach vorn, um die Gaben in Empfang zu nehmen. Nach koptischer Vorschrift mussten sie dafür zuvor 12 Stunden fasten. Auf einem Löffel wird Brot in den Weinkelch getunkt und den Gläubigen in den Mund gereicht.
Christliche Mystik bei den Kopten
Anders als in den europäischen Kirchen besteht in der koptischen Kirche nicht der Anspruch, die sakralen Handlungen dem Verständnis der Menschen näher zu bringen. Die Menschen sollen sich selbst dem Geheimnis des Heiligen annähern. Das kann nach Auffassung der Kopten nicht vermittelt werden. Der koptische Gottesdienst zieht sich über mehrere Stunden hin. Dabei herrscht in der Kirche ein reges Kommen und Gehen. Die Menschen unterhalten sich, spazieren herum und wenden sich dann wieder den sakralen Handlungen zu. „Die Gläubigen verlassen sich darauf, dass da schon das Richtige, das Heilige passiert“, erklärt Bruder Jusuf. „Deshalb müssen sie nicht ständig dabei sein“.
In der koptischen Kirche lebt die christliche Mystik, die kontemplative Versenkung in Gebete und Liturgie, viel stärker fort als im Westen. Die Kopten, so schreibt die Ägyptologin Emma Brunner-Traut in ihrem Buch über die ägyptischen Christen, hätten ein an den Anfängen, nicht am Fortschritt orientiertes Zeit- und Geschichtsverständnis. Weder Reform-Renaissance noch Aufklärung seien ihnen begegnet. Das hat ihre Frömmigkeit geprägt, der das pädagogische, predigende Element und die kritische Bibelexegese fremd sind. Die koptische Kirche, die nie zur Staatskirche wurde, hat ihre Traditionen über fast zwei Jahrtausende hinweg unter schwierigen Bedingungen erhalten. Darauf sind die Kopten stolz. „Wir sind die älteste christliche Kirche der Welt“ sagt Jusuf. Sie hätten, fügt er hinzu, bis heute an dem Wort festgehalten, dass ihnen Antonius zum Testament machte: „Haltet nicht an auf dem Wege! Hütet euch vor dem Abfall vom Glauben. Bewahret eure Freunde!“

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