Winter auf Nordstrand I Goldrausch

Abendliches Licht auf Nordstrand
Abendliches Winterlicht auf Nordstrand

Tief hängen die dunklen Wolken über der Küste. Brackige Gräben durchziehen das gelblich-braune Gras der Salzwiesen. Sie sind aus dem Schlick des Meeres entstanden und haben die Nordsee an manchen Stellen weit hinter den Deich zurückgedrängt. Das Auge verliert sich im Nebeldunst, der über Meer und Wiesen hängt und beides zu einer einzigen weiß-grauen Weite verschmilzt. Es ist Winter auf Nordstrand.

Das Wasser ähnelt frisch gegossenem Blei

In dieser kalten Jahreszeit wirkt die Insel oft fast wie ausgestorben. Nur einige Besucher ziehen unermüdlich über die Deiche und kämpfen sich, dick in Mäntel, Schals und Mützen verpackt, mühsam gegen den Wind voran. An vielen Tagen ziehen sich dicke graue Wolkenbänke über dem Eiland zusammen, dann taucht der ohnehin kurze Tag in ein halbdunkles Dämmerlicht. Die Meeresoberfläche bekommt einen metallischen Glanz und ähnelt frisch gegossenem Blei.
Nordstrand gehört zu den Landfetzen, die nach der letzten große „Mandränke“, wie die Friesen die verheerenden Sturmfluten genannt haben, von einem ehemals großen Eiland übrig geblieben sind. Das war im Jahr 1634. Es umfasste die Insel in ihrer heutigen Form sowie Pellworm und etliche der Halligen, kleine vom Meer verschonte Landschollen mit manchmal kaum einem Kilometer Durchmesser.
Die etwa 50 Quadratkilometer große Insel Nordstrand liegt auf der Höhe des schleswig-holsteinischen Städtchens Husum und ist durch einen vier Kilometer langen Autodamm mit dem Festland verbunden. Weitflächig verteilen sich kleine Ortschaften über das Land. Früher bestanden sie aus wenigen Bauernhöfen, heute gruppieren sich einige Wohn- und Feriensiedlungen um die Höfe herum. Dazwischen liegen ausgedehnte Wiesen und Marschgebiete, auf denen Schafe und Kühe weiden. Landgewinnungsmaßnahmen haben das Eiland mittlerweile mit dem Festland verbunden; im Süden bekommt das Meer zwischen Küste und Inselsaum immer stärker den Charakter einer Salzwasserlagune.

Ein Fünkchen Frühling

Nur selten finden in der dunklen Zeit einige Sonnenstrahlen ihren Weg durch kleine Risse in der vom Wind zerzausten Wolkendecke. Sie leuchten dann in das fahle Dämmerlicht des Winters hinein und lassen goldgelb glänzende Lichtoasen entstehen, deren Glanz sich weit ausbreitet, um sich irgendwo in einem fernen finsteren Niemandsland wieder zu verlieren. Wie ein kurzes Versprechen auf Sonne und Wärme wirkt dieses Leuchten für die in dieser Zeit lichthungrigen Menschen. Es ist fast wie ein Fünkchen Frühling, das schon kurze Zeit später, wenn die grauen Gebilde am Winterhimmel sich neu formiert haben, wieder erlischt.

Unerbittlich kaltes Blau

Dann jagen wütende Böen die Wolken weit auseinander, treiben sie über dem Meer vor sich her, formen kleine aneinander hängende Wattebällchen aus ihnen, zerpflügen sie in lange Streifen, die aussehen wir die Rauchfahnen einer übergroßen Tabakspfeife und rauhen sie auf, dass sie dem Wellenspiel des Meeres ähnlich werden. Im nächsten Moment reißt der Wind kleine Löcher in die Decke, durch die das Licht wie in eine Grotte fällt, von unten auf die Wolken zurückreflektiert und sie in fahlem Licht rötlich-gelb schimmernd ausleuchtet.
Wenn sich einmal die Wolken ganz verziehen, erstrahlt der Himmel in einem unerbittlich kalten Blau. Auch die See färbt sich unter diesem Himmel stahlblau, eine Farbe, die vor Intensität überzulaufen scheint, um alles, was in erreichbarer Nähe liegt, mit einem blauen Lack zu überziehen.
Das vordem schmutzige Gelbgrün der Wiesen und Deiche scheint jetzt fast einen sommerlichen Glanz auszustrahlen. Ein hartes, gleißendes Licht, das lange und tiefe Schatten wirft, liegt dann über der Insel, um abends um halb fünf in einem eisigen orange-violetten Sonnenuntergang im Meer zu explodieren.
Es sind die Details die man sehen und erleben muss, wenn man die Insel erleben will: Ihr Himmel, ihre Wiesen, ihre Deiche, das Meer und ihre wechselnden Farben, ihr unterschiedliches Licht, ihre Stürme und Flauten Es gibt kaum Ablenkung. Nordstrand wirft einen immer wieder auf sich selbst zurück.

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