„Christen heute“, 52. Jahrgang vom November 2008
Die Lazarus Legion warnt vor einem nachlassenden Problembewusstsein gegenüber HIV und AIDS
An der Wand des Gruppenraums der Lazarus Legion in Hannover hängt ein großes gewebtes Tuch, das Hannover AIDS-Quilt. Eingefasst in eine Borte aus den Regenbogenfarben ist es mit den Namen von 62 an AIDS verstorbenen Menschen bestickt. In diesem Raum werden Besprechungen abgehalten und Gruppenaktivitäten durchgeführt, einmal in der Woche treffen sich HIV-Infizierte und AIDS-Kranke hier zu einem gemeinsamen Frühstück, bei dem es oft auch heiter zugeht. Dennoch, der Tod und das Andenken an die Opfer der Krankheit sind an diesem Ort stets präsent.
Christlicher Beistand für die neuen „Aussätzigen“
Das hannoversche AIDS-Quilt sei immer dabei, wenn einmal jährlich anlässlich des Welt-AIDS Tages der ökumenische AIDS Gedenkgottesdienst in einer hannoverschen Kirche stattfindet, sagt Wolfgang Ester, der Vorsitzende der Lazarus Legion. Seit 1997 bekleidet der heute 44-jährige Ester dieses Amt. Die Mitglieder des Vereins haben es sich zur Aufgabe gemacht, HIV-Infizierten und AIDS-Kranken professionellen Beistand zu leisten. Genauer gesagt geht es um Christenbeistand, und dieser Namenszusatz – „Christenbeistand für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke“ – sei ihm sehr wichtig, hebt der Vorsitzende hervor: „Der Sinn des christlichen Glaubens ist es schließlich vor allem, Nächstenliebe zu üben und Gutes zu tun.“ Diesen christlichen Prinzipien fühlen sich die ehren- und zwei hauptamtlichen Mitarbeiter der Lazarus Legion verpflichtet. Der Name des Vereins bezieht sich auf den aussätzigen Lazarus im Lukas-Evangelium, dem nicht erlaubt wurde, die vom Tisch des Reichen fallenden Brotkrümel aufzusammeln.
Aidskranken mit Rat, Tat und menschlicher Nähe zur Seite stehen
Auch Vertreter der christlichen Kirchen haben die von HIV und AIDS Betroffenen zeitweilig wie Aussätzige behandelt und ihnen nicht immer die nötige Solidarität entgegengebracht. In den ersten Jahren nach dem Ausbruch der Epidemie sei es für gläubige Menschen insbesondere in der römisch-katholischen Kirche fast unmöglich gewesen, sich an Geistliche oder andere Kirchenvertreter zu wenden, berichtet Wolfgang Ester: „Als Strafe Gottes und als Schwulenkrankheit hat man AIDS bezeichnet.“ Einige Mitglieder der alt-katholischen Gemeinde Hannover-Niedersachsen wollten diesen Zustand nicht akzeptieren. Spontan entschloss man sich seinerzeit, etwas zu tun. Das war im Jahr 1987. Der damalige Gemeindepfarrer Daniel Conklin stellte beherzt seine Privaträume zur Verfügung, um Betroffenen eine Anlaufstelle zu bieten und ihnen mit Rat, Tat und menschlicher Nähe zur Seite zu stehen. In diesen Räumen in der hannoverschen Podbielskistraße ist die Lazarus Legion bis heute geblieben. „Hier in diesem Gruppenraum war früher Daniels Wohnzimmer“, erzählt Wolfgang Ester lächelnd. Der Geistliche lebt und wirkt inzwischen im US-amerikanischen Seattle, der Kontakt ist jedoch nie abgerissen.
Damals bezogen der Pfarrer und das Büro der alt-katholischen Gemeinde bald neue Räume in einer Nachbarwohnung. Schnell wuchs der Bedarf an professioneller Hilfe für die Betroffenen. Mit dem Provisorium im Wohnzimmer und dem ehrenamtlichen Engagement der Gemeindemitglieder allein konnte man diesen Anforderungen auf Dauer nicht gerecht werden. Über eine Finanzierung durch das Land Niedersachsen, der Stadt Hannover und der Bezirksregierung konnten zwei Sozialarbeiterstellen in Vollzeit eingerichtet und die Geschäftsstelle erhalten werden.
Der Kampf ums Geld ist härter geworden
Inzwischen sei der Kampf ums Geld härter geworden, erzählt Günter Lomberg, der
Schatzmeister des Vereins. Die beiden Sozialarbeiter haben jetzt nur noch reduzierte Stellen. Ohne Spenden und unbezahlter Unterstützung wäre die Arbeit kaum noch zu schaffen, sagt der 64jährige Schatzmeister. „Als erster Vorsitzender übe ich hier quasi eine ehrenamtliche Geschäftsführerposition aus“, ergänzt Wolfgang Ester, „eigentlich ein Fulltime-Job“. Wolfgang Ester und Günter Lomberg, beide selbst Betroffene und inzwischen berentet, stecken so viel Zeit in die Arbeit bei der Lazarus Legion, wie es ihnen ihre gesundheitliche Situation erlaubt. „Die mittlerweile zur Verfügung stehenden Medikamente schlagen bei uns Gott sei Dank gut an“, sagt Günter Lomberg: „Das Virus ist unterhalb der Nachweisgrenze, aber ohne die Medizin würde es sich sofort wieder vermehren.“
Therapie und Gleichgültigkeit
Seit Mitte der neunziger Jahre existieren einige wirksame Arzneimittel gegen die Erkrankung. Üblich ist heute eine Kombinationstherapie aus drei verschiedenen Wirkstoffen, die verhindern, dass sich der Krankheitserreger ausbreitet und gesunde Körperzellen befällt. „Trotzdem kann es vorkommen, dass das Virus gegen die Medikamente resistent wird“, erklärt Wolfgang Ester. Darüber hinaus vertrage nicht jeder die starken Mittel, deren Nebenwirkungen vergleichbar seien mit einer Chemotherapie gegen Krebs. „Obwohl es Medikamente gäbe, stürben immer noch Menschen an AIDS, betonen Wolfgang Ester und Günter Lomberg.
Die beiden Lazarus-Vorständler stellen allerdings eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber dem AIDS-Problem fest. „Viele meinen wohl, AIDS sei kein Problem mehr, weil jetzt Medikamente da sind“, sagt Günter Lomberg. Und sein Kollege Ester fügt hinzu: „Gerade die jungen Menschen, die doch mit der Krankheit aufwuchsen, interessieren sich nicht dafür und schützen sich zu wenig.“ Ein nachlassendes Problembewusstsein stellen die beiden auch in anderen Gruppen, etwa bei Homosexuellen fest.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb sind die HIV-Neudiagnosen 2007 gegenüber dem Vorjahr wieder um 4 Prozent angestiegen. Dabei zeigen die Zahlen, dass sich das Problem keineswegs auf Männer mit homosexuellen Kontakten beschränkt. Zwar stellen sie mit 65 Prozent immer noch die größte Gruppe der Infizierten in Deutschland dar. 17 Prozent der Betroffenen haben sich die HIV-Infektion nach eigenen Angaben jedoch durch heterosexuelle Kontakte zugezogen und bilden damit die zweitgrößte Gruppe. Aus Ländern mit einer hohen HIV- und AIDS-Rate, den sogenannten „Hochprävalenzländern“, stammen 11 Prozent der vom HI-Virus Befallenen. Sechs Prozent haben sich durch Drogengebrauch angesteckt. Insgesamt waren in Deutschland Ende 2007 knapp 70.000 mit HIV infizierte Personen registriert.
„Ich ertrage es nicht mehr, auf Beerdigungen zu gehen!“
Für Günter Lomberg und Wolfgang Ester sind dies nicht nur Zahlen. Sie lernten im Laufe der Zeit die menschlichen Schicksale und das Leid kennen, das sich dahinter verbirgt. „In den letzten 20 Jahren haben wir etwa 110 Leute verloren, die als Klienten zu uns kamen“, sagt Wolfgang Ester. Auch im vergangenen Jahr habe es wieder einige Todesfälle gegeben. Damit klarzukommen ist für die Mitarbeiter der Lazarus Legion nicht leicht. „Ich ertrage es einfach nicht mehr, auf Beerdigungen zu gehen“, gesteht der Vorsitzende: „Das mache ich nur noch, wenn ganz enge Freunde sterben.“
Obwohl Sterben und Tod nach wie vor Themen sind, hat sich mit der medikamentösen Therapie seit den neunziger Jahren natürlich auch vieles verbessert. „Theoretisch kann man mit der Krankheit alt werden“, sagt Wolfgang Ester. Und durch diese neue Situation hat sich natürlich auch der Arbeitsbereich gewandelt. Gehörte in den Anfangsjahren intensive Betreuung bis hin zur Sterbebegleitung zu den Hauptaufgaben der Lazarus-Legionäre, so haben inzwischen Ämterangelegenheiten und die Antragstellung von Renten und Sozialleistungen zugenommen. „Nach der HIV-Diagnose haben sich etliche verschuldet, weil sie glaubten, sowieso bald zu sterben“, erzählt Günter Lomberg: „Jetzt haben sie wieder Lebensperspektiven und wir unterstützen sie dabei, ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.“
Ein wichtiges Einsatzfeld ist darüber hinaus nach wie vor die Präventionsarbeit, wie nicht zuletzt die steigende Zahl der Infizierten zeigt. Die beiden Sozialarbeiter des Vereins, Lutz Gädt und Sabrina Vosshans, gehen in Schulen, um junge Menschen über das Problem aufzuklären. Und sie leisten Streetwork, begeben sich etwa an bekannte Szenetreffs, wo homosexuelle Kontakte unter Männern stattfinden, um für Safer Sex und verantwortungsvolles Verhalten zu werben.
Die Lazaruslegion ist weiterhin auf finanzielle Hilfe angewiesen
Damit diese Arbeit geleistet werden kann, ist die Lazarus Legion weiterhin auf finanzielle Hilfe angewiesen. Zu den Unterstützern gehören neben der evangelischen Landesbischöfin Margot Käßmann inzwischen auch römisch-katholische Pfarreien. Mitglied des Vereins ist etwa die Propstei St. Clemens in Hannover, viel ehrenamtliche Hilfe kommt außerdem von der St. Josef Gemeinde in Hannover Vahrenwald und ihrem Pfarrer Heinrich Plochg. „Besonders verbunden fühlen wir uns natürlich immer noch den hannoverschen Alt-Katholiken“, sagt Wolfgang Ester, „das ist ja schließlich unsere Muttergemeinde“. Gerade in der letzten Zeit habe sich insbesondere Pfarrer Oliver Kaiser immer wieder im Bistum für die Lazarus Legion stark gemacht. „Mehrer alt-katholische Gemeinden sammeln regelmäßig eine Sonntagskollekte, die uns zugute kommt, betont Schatzmeister Günter Lomberg. Neben Hannover-Niedersachsen sind auch die alt-katholischen Gemeinden in Koblenz und Konstanz Mitglied in der Lazarus Legion, der übrigens einzigen christlichen HIV- und AIDS-Beratungsstelle im gesamten Bundesgebiet.
Wolfgang Ester und Günter Lomberg hoffen darüber hinaus auf prominente Verstärkung aus Seattle. „Im nächsten Jahr“, sagt der Vorsitzende, „geht Pfarrer Daniel Conklin in den Ruhestand und will dann zurück nach Deutschland kommen. Wir würden uns natürlich sehr freuen, wenn er wieder ein bisschen bei uns mitmacht“.
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