„Gesunder Arbeitsmarkt“

In Hannover werden Sozialarbeiter knapp. Grund dafür sind die Flüchtlinge, die in den letzten Jahren in die Stadt und ins Hannoversche Umland kamen und für Integration, Orientierung und Alltagsbewältigung zumindest während der ersten Zeit professionelle Unterstützung brauchen. Es sind also vielerorts neue Flüchtlingsunterkünfte entstanden und zum Wirkungsort hannoverscher Sozialarbeiter geworden.

Unter Berufung auf die örtliche Arbeitsagentur vermeldete die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) vom 27. März, dass in der Region Hannover derzeit offiziell 90 Sozialarbeiter einen Job suchen. Demgegenüber stehen 64 offene Stellen. Dies sei ein Missverhältnis, findet Arbeitsagentur-Sprecher Holger Habenicht.
Nun ja, ein Missverhältnis in der Tat, mehr Bewerber als zur Verfügung stehende Stellen – doch das ist ja eigentlich nichts Außergewöhnliches in der freien Markwirtschaft. Aber so, wie es im ersten Moment scheint, hat Holger Habenicht es gar nicht gemeint. Das Missverhältnis sei entstanden, weil es zu viele Stellen für zu wenige Bewerber gäbe. Bei einem „gesunden Arbeitsmarkt“ kämen statistisch gesehen zehn Bewerber auf eine freie Stelle. Der Arbeitsmarkt ist aus dieser Perspektive also nur gesund, wenn es immer einen festen Sockel von überschüssigen Arbeitskräften gibt.
Selbstverständlich würde Holger Habenicht das Adjektiv überschüssig nicht verwenden, sondern wohl eher von einer temporärer Übersättigung des Arbeitsmarktes und einem Überhang an Humanressourcen sprechen. Aber egal, welchen Namen man dem Kind gibt, gemeint ist immer das Gleiche: Damit die freie Marktwirtschaft funktioniert, bedarf sie immer einer gewissen Arbeitskraftreserve – einerseits aus disziplinarischen Gründen und andererseits, um bei wachsendem Bedarf jederzeit aus diesem Pool schöpfen zu können. Der Marktwirtschaftler weiß: Das Angebot bestimmt den Preis. Ein Überangebot an Arbeit macht die Arbeit billig. Knappheit verteuert sie. Was für den Dienstleistungs- und sozialen Sektor gilt, das gilt für das produzierende Gewerbe allemal. Ein kluger deutscher Philosoph und Ökonom aus den 19. Jahrhundert hat es einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Es liegt in der Natur des Kapitals, einen Teil der Arbeiterbevölkerung zu überarbeiten und einen anderen zu verarmen.“
Womit wir beim Thema Armut wären: Unter den temporär „überschüssigen“ Arbeitskräften gibt es einige, die bei allen Bemühungen immer zu den neun anderen gehören, die nicht genommen werden. Das sind die Ängstlichen, Schüchternen, Verkrampften, Unfreundlichen, chronisch Frustrierten, Unsympathischen, Alten oder mit sonst einem Makel behafteten. Das immer wieder Abgelehnt-werden wird am Ende selbst zu einem Makel. Dauerhaft an den Rand gedrängt zu sein, macht arm und krank, grenzt Menschen aus, nimmt den Menschen die Möglichkeit, am gesellschaftlichen und sozialen Leben in angemessener Form teilzuhaben.
Wenn also der Kapitalismus sich jenen „gesunden Arbeitsmarkt“ leisten will, den er vermeintlich oder wirklich für seine Reproduktion benötigt, so muss er sich auch einen öffentlichen Beschäftigungssektor leisten. Jeder Mensch, der dauerhaft in dieser Gesellschaft lebt, hat ein Recht auf Teilhabe. Das gilt für den Teil der Weltarmutsbevölkerung, der es bis nach Westeuropa schafft und hier Aufnahme sucht, für die Flüchtlinge also. Und das gilt für die angestammte Armutsbevölkerung ebenso. Integration ist unteilbar.

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