Ein kleines Paradies im Wendland

Mit den ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens hebt in der großen alten Eiche vor dem „Hotel Hamburg“ das fröhliche Gezwitscher einer Spatzenkolonie an. Der Baum überschattet eine kleine Kapelle aus dem 18. Jahrhundert, die so etwas wie den Ortskern des wendländischen Dörfchens Drethem bildet. Um acht Uhr wird das Läuten die letzten Langschläfer des Dorfes aus dem Schlaf holen. Aber noch stört kein Menschenlärm das Frühkonzert der Vögel.


Knorrige Zweige strecken sich der Festerfront des Fachwerkhauses entgegen. Durch lichte Stellen im Blattwerk ist das Elbufer zu erkennen. Alles wirkt wie ein Bilderbuchidyll aus fernen Zeiten. Das kleine 70-Seelendorf direkt am Fluss ist ein Paradies für Naturliebhaber und Ruhesuchende. Es liegt an der östlichen Grenze des Hannoverschen Wendlandes im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg.

p22_p7134696.jpg Hotel Hamburg in Drethem

Etwa 300 bis 500 Jahre alt sei die Eiche, „ganz genau wissen wir es aber nicht“, sagt Birgit Loelf, die 42-jährige Wirtin des Gasthauses. Zusammen mit ihrem 46-jährigen Ehemann Andreas schmeißt die resolute Frau und Mutter dreier Kinder den Familienbetrieb. Drethem befindet sich mitten im Naturpark Elbufer-Drawehn, der sich über den gesamten Landkreis erstreckt.

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Naturpark Elbufer-Drawehn: Wanderparadies für Naturliebhaber

Die meisten, die mit dem Fahrrad auf Tour sind, kommen hier am westlichen Elbufer auf der etwa 16 Kilometer langen Strecke zwischen Hitzacker und Neu-Darchau gehörig ins Schwitzen. Denn der bewaldete Drawehn ist eine Erhebung, deren höchster Punkt 140 Meter über dem Meeresspiegel liegt. „Viele setzen deshalb in Hitzacker mit der Fähre ans östliche Elbufer über, dort ist alles flach“, sagt Loelf etwas missmutig. Dem Betrieb gehen dadurch zahlreiche Gäste verloren. Doch der beschwerlichere Weg lohnt die Mühen. Von den Aussichtspunkten an der westlichen Uferstraße hat man einen atemberaubenden Blick über die Elbauen bis weit nach Osten ins Land hinein. Und bei Familie Loelf im Gasthaus Hamburg ist für die erschöpften Radler meist noch ein Zimmer frei. Wer dann unter der großen alten Eiche zwischen der von Birgit Loelf liebevoll angelegten Blumenpracht im Wirtsgarten sitzt und sich zum kühlen Getränk ein von der Wirtin zubereitetes Abendessen servieren lässt, wird für die Strapazen reichlich entschädigt. Im Gasthaus Hamburg gibt es gute Hausmannskost und auch Vegetarisches ist dabei im Angebot.

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Fantastischer Blick über die Elbauen

„Ein richtiges kleines Paradies haben wir hier“, schwärmt die Gastwirtin. Neben ihrer Arbeit im Familienbetrieb engagiert sie sich im Förderverein Wendland-Rundweg e.V. Der Verein bemüht sich darum, für den Elb-Höhenweg das Gütesiegel „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ zu bekommen, das der Deutsche Tourismusverband erteilt. Zwischen Neu-Darchau im Norden und Neu-Schnackenburg im Süden führt der Weg auf einer Länge von 66 Kilometer an der Elbe entlang.

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Elbufer bei Sonnenaufgang

In Sachen Sehenswürdigkeiten, landschaftlichen Attraktionen und Abwechslungsreichtum werden bei der Vergabe des Prädikats hohe Anforderungen gestellt. Erst acht der geprüften Wanderregionen in Deutschland konnten sie bisher erfüllen. „Wir haben hier die besten Voraussetzungen“, sagt Birgit Loelf selbstbewusst. Vom Tourismusverband seien bereits positive Signale gekommen, berichtet sie. Wenn erst die verbesserte Wegbeschilderung angebracht sei, dürfte dem Erfolg eigentlich nichts mehr im Wege stehen, meint sie zuversichtlich.

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Wanderweg entlang der Elbe

Die Vereinsmitglieder erhoffen sich dadurch eine touristische Aufwertung der Region und das Ehepaar Loelf natürlich auch eine bessere Auslastung ihres Hotels.
Bereits jetzt bietet der regionale Tourismusverband in Zusammenarbeit mit den Gastronomiebetrieben der Region einen besonderen Wanderservice an. Für knapp 100 Euro gibt es eine Wanderroutenempfehlung inklusive Wanderbuch, zwei Übernachtungen für zwei Personen, ein Lunchpaket für jeden und einen Rückholservice vom erwanderten Etappenziel. Unbeschwert von allzu viel Gepäck lassen sich so beispielsweise die etwa 16 Kilometer Elb-Höhenweg zwischen Neu-Darchau und Hitzacker erkunden. Diese Strecke enthält fast alles, was die Region zu bieten hat: Mischwälder, Wiesen, Flußauen und sanfte Höhen mit grandiosen Ausblicken auf das besonders geschützte Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue, der östlichen Grenze des Wendlandes.

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Blick vom Elb-Höhenweg auf die Elbe

Das Biosphärenreservat ist seit 1996 Teil des zwischenstaatlichen Programms „Mensch und Biosphäre“ der UNO-Sonderorganisation UNESCO. Damit soll ein Beitrag zur Erhaltung von Landschaften, Ökosystemen und Artenvielfalt geleistet werden.

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Sunrise im Biosphärenreservat

Jahrzehntelang markierte der Elbfluss die Grenze zwischen Ost und West. Die Auswirkungen der für viele leidvollen Teilung gerieten zum Glücksfall für die Natur. Das kaum berührte Gebiet bot Rückzugsraum für Schwarzstörche, Seeadler, Kolkraben, Kraniche und andere Tier- und Pflanzenarten. Aufgrund ihrer ehemaligen Grenzlage ist die Elbe daher ein Fluss mit einem weitgehend natürlichen Verlauf und ökologisch wertvollen Uferregionen geblieben. Noch heute ist sie vergleichsweise wenig befahren und daher eher ein Feldweg unter den großen Wasserstraßen Europas: Zwischen Neu-Darchau und Neu-Schnackenburg werden im Durchschnitt etwa zwölf Kähne täglich gezählt.

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Die Elbe zwischen Ost und West – ein Glücksfall für die Natur

Seinen Anliegern hat der Strom in den letzten Jahren allerdings häufiger das Fürchten gelehrt. Insbesondere das Städtchen Hitzacker wurde gleich von mehreren Hochwassern heimgesucht. Hier mündet der kleine Fluss Jeetzel in den Elbstrom. Im August 2002 und im Januar des darauffolgenden Jahres sowie schließlich noch einmal im April 2006 stand die von Elbe und Jeetzel umschlossene Altstadtinsel von Hitzacker vollständig unter Wasser.

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Hitzacker

Mitten im Stadtkern des Ortes betreibt Mohammed Azun das Bistro Sunrise. Seit knapp vier Jahren sei er jetzt in der Stadt, berichtet Azun, davon habe er bereits zweimal Hochwasser erlebt. Der Pakistaner kam vor 27 Jahren als politischer Flüchtling nach Deutschland und hat sein Geld lange als Lagerarbeiter in Westfalen verdient. Ein Landsmann bot ihm dann die Übernahme des Bistros an. Zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern zog der 52-Jährige in die Elbstadt. Neben indischer Küche sind in seinem Bistro auch Döner und italienische Pizza zu haben. „Seit dem letzten Hochwasser ist nichts mehr los in Hitzacker“, sagt der Mann: „Früher war der Laden voll, schauen Sie, jetzt kommt kaum noch einer.“ Viele versuchen, ihre Häuser zu verkaufen und die Stadt zu verlassen, erzählt Azun. Schon zwei Mal habe er seinen Betrieb wegen der Hochwasserschäden renovieren müssen, die Keller seien feucht und als Lager kaum noch zu gebrauchen. „Hier ist nichts mehr zu verdienen, deshalb gehe ich demnächst zurück nach Westfalen“, sagt der Bistrobetreiber resigniert. Wenn er Glück habe, könne er in seinem alten Job wieder anfangen.

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Bistro Sunrise

Auch andere Geschäftsleute in Hitzacker waren vom Hochwasser stark betroffen. Einige haben in den Auslagen Bilder ausgestellt, auf denen ihr überflutetes Geschäft zu sehen ist.

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Erinnerungen an das Hochwasser

Der größte Teil der Einwohner von Hitzacker fordert nun einen zügigen Ausbau des Hochwasserschutzes. Dagegen zieht jedoch der Geschäftsmann Werner Schneeberg gerichtlich zu Felde. Er befürchtet Einnahmeverluste in seinem Hotel- und Gastronomiebetrieb, falls die Sicht auf den Elbfluss seinen Gästen durch Schutzanlagen versperrt wird. Statt der geplanten 1,20 Meter soll die 85 Meter lange Wasserschutzwand nur 70 Zentimeter hoch sein, fordert er. Dann aber sei die Sicherheit nicht mehr gewährleistet, außerdem müsste das Genehmigungsverfahren noch einmal neu beginnen, argumentieren die Befürworter der Anlage.

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Wie geht es weiter mit dem Hochwasserschutz?

Wegen des Streits liegt der Ausbau des Hochwasserschutzes jetzt auf Eis.
Möglich also, dass die Geschäfte von Mohammed Azun und anderen Geschäftsleuten auch noch ein weiteres Mal unter Wasser stehen. Ob dabei Hitzackers Wahrzeichen, der bronzene Butt auf dem historischen Markplatz, seine Flossen im Spiel hat? Der Sage nach gerät er in Zorn, wenn die Menschen zu sehr in die Natur eingreifen. Dann zerstört er Deiche und Boote und lässt das Land überfluten. Eine Plakette an der Bronzeskulptur mahnt: „Denk mal an die Elbe und die Fische.“ Eigentlich hätte der Butt derzeit keinen Grund, sich aufzuregen, ist doch für den Naturschutz am Elbufer einiges getan worden.

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Am Elbufer ist die Natur weitgehend intakt

Dem Weinberg oberhalb der Stadt hat das Hochwasser nicht geschadet. Er gehört zu den nördlichsten seiner Art in Deutschland, hier wachsen Reben für etwa 120 Liter Wein pro Jahr. Im freien Handel sind die raren Tröpfchen, darunter Riesling, Silvaner und Frühburgunder, nicht zu bekommen; sie werden an jene verschenkt, die sich um Hitzacker verdient gemacht haben.
Vom 8. bis ins 13. Jahrhundert stand auf der Anhöhe des Weinberges eine Slawenburg. Obwohl sie schon seit der Gründung Hitzackers im Jahr 1258 an Bedeutung verlor, wurde im Wendland, das seinen Namen dem Volksstamm der Wenden verdankt, noch bis vor rund 200 Jahren in vielen Dörfern slawisch gesprochen. Erst im 18. Jahrhundert hat das Deutsche die slawische Sprache endgültig verdrängt. In Ortsnamen wie Waddeweitz, Jabel oder Güstritz hat sie ihre Spuren hinterlassen. Viele dieser alten Siedlungen gehören zu den weltweit einmaligen Rundlingsdörfern: Um einen zumeist begrünten Dorfplatz herum stehen kreisförmig angeordnet die alten Bauerhäuser im Fachwerkstil. Während der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts waren es vor allem Zugezogene, die den besonderen Reiz dieser typischen Wendlanddörfer entdeckten. Oft wurde viel Geld und Arbeit in die Erhaltung der teilweise bereits verfallenden Häuser gesteckt.

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Rundlingsdorf im Wendland

Viele von den Neu-Wendländern aus den Reihen der grün-alternativen Szene kamen im Gefolge der Proteste gegen die Atommülllagerstätte in Gorleben: Sie verliebten sich ins Wendland und blieben. Yogalehrer, Psychotherapeuten, Meditationstrainer, Maler, Goldschmiede, Feng Shui Berater und Künstler jeglicher Couleur gibt es in dieser ländlichen Region daher heute in einer Zahl, wie sonst wohl nur in Großstädten.

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Altes Bauernhaus im Wendland

Zweimal im Jahr wird das Wendland zum Magnet für Besucher aus allen Teilen Deutschlands. Im Herbst, wenn wieder ein Atommülltransport in den sogenannten Castorbehältern durch den Landkreis Lüchow-Dannenberg Richtung Gorleben zieht, macht die Anti-AKW Bewegung bundesweit für Proteste und Blockaden mobil. Bereits einige Monate vorher, im Mai und Juni, steht die „Kulturelle Landpartie“ ins Haus. Dann öffnen all die Kunsthandwerker, Maler und Musiker, Ökobauern und Bioladenbesitzer, Meditationstrainer und Psychotherapeuten die Türen, um sich und ihre Arbeit in Ausstellungen, Lesungen, Verköstigungen und Konzerten zu präsentieren.
Nicht allen ist das recht. Zu viel Konsum, die eigentliche Idee, mit der Landpartie gegen die Atomenergie zu protestieren, ginge immer mehr verloren, klagt zum Beispiel Edelgard Gräfer, die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz in Lüchow. Geguckt, gekauft und abgehakt sei jetzt das Motto. „Wann gehen wir damit an die Börse“, fragt sie beschwörend?

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Widerstand gegen Atomkraft im Wendland

An die Börse wird die wendländische Landpartie in absehbarer Zeit wohl nicht gehen, ein kulturelles Highlight für viele Besucher von Nah und Fern jedoch bleiben. Im Wendland ist, so hat es ein findiger Tourismusexperte in der offiziellen Informationsbroschüre Elbtalaue Wendland formuliert, die „Kunst die Schwester der Natur“. In der Tat gehen Natur und Kultur hier eine innige Beziehung ein, der Werbeslogan ist daher ganz passend. Und das nicht nur wegen der Plastiken und anderer Kunstobjekte, die von wendländischen Künstler in die Landschaft integriert werden, zu sehen etwa in der Seege-Niederung und in Darchau. Wo sonst kann man Vormittags eine Vernissage besuchen, nachmittgas eine Wanderung durch ausgedehnte Flussauen unternehmen, und abends ein paar Kilometer weiter ins HipHop, Jazz oder Indie-Rock Konzert gehen? Im Wendland kein Problem!

Nachtrag: Der Artikel gibt den Stand vom Sommer 2006 wieder. Inzwischen hat sich einiges getan:
-Der Wendlandweg und der Klötzstieg wurden mit dem Label „Qualitätsweg“ im August 2008 ausgezeichnet,
-das Bistro Sunrise ist Dezember 2006 abgebrannt und seitdem nicht mehr eröffnet worden;
-zum Thema Hochwasserschutz und Klagen hat sich auch einiges getan. In diesem Jahr soll die Hochwasserschutzanlage eröffnet werden.


Wendland und Elbufer-Drawehn Fotoalbum – hier klicken

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