Pionierleiter im Kinderferienlager Friedrichsbrunn

Am Rande des Städtchens Friedrichsbrunn im Ostharz rottet eine verlassene Barackensiedlung mit alten Hütten aus Sperrholz und Presspappe vor sich hin. Von den Friedrichsbrunnern heute „die Geisterstadt“ genannt, war dies eines der so genannten Kinderferienlager, in denen die Pioniere und FDJ-Mitglieder der untergegangenen DDR Jahr für Jahr ihren Urlaub verbrachten. Auch Kinder aus anderen Ländern des Real-Sozialismus kamen hierher; sogar einige westdeutsche Kids reisten regelmäßig mit der DKP Kinderorganisation an, die ebenso wie ihre ostdeutsche Schwester den Namen „Junge Pioniere“ trug.

Gras wächst über die Geisterstadt
Inzwischen wächst im wahrsten Sinne Gras über die Sache. Außer den Erinnerungen derjenigen, die seinerzeit dabei waren, ist nicht viel mehr davon übrig geblieben als verfallene Holzbaracken und einige verwüstete Backsteingebäude, aus denen schon lange alles heraus geholt wurde, was sich noch irgendwie gebrauchen ließ.

Kinderferienlager: „Das war ganz wunderbar“
Manche der ehemaligen Betreuer aus Westdeutschland mögen sich heute vielleicht nur noch verschämt an ihren Einsatz in dem maroden sozialistischen Staat erinnern, der dann so sang- und klanglos zerbrach. Manuel*, inzwischen Sozialarbeiter, damals, im Jahr 1987, Pionierleiter einer westdeutschen Kindergruppe in Friedrichsbrunn, gehört jedoch nicht zu denen, die hier übertriebene Reue zeigen. „Das war das Kinderferienlager Erich Weinert der jungen Pioniere, ich war Pionierleiter, was denn sonst“, sagt der Sozialarbeiter mit jenem speziellen Stolz in der Stimme, der denjenigen zu eigen ist, die ein ganz wichtiges Ereignis persönlich miterlebt haben. Wunderbar sei das gewesen, ganz hervorragend sogar, meint Manuel. In dem Ferienlager habe es ein vielfältiges Programm gegeben, erzählt er. „Wir sind gewandert, haben Spiele gemacht, Feste veranstaltetet, ein bisschen Geld gesammelt für die internationale Solidarität, Betriebsbesichtigungen durchgeführt, Theater gespielt und so weiter“. Ein wenig erinnert sein Ton an den alten SED-Parteijargon.

Schäferstündchen mit Marita
Mühsam bahnt sich Manuel einen Weg durch das Dickicht, längst haben Gras, Gebüsch und Unterholz das Gelände zwischen den zerfallenden Hütten zurück erobert. Zersplittertes Glas liegt vor den leeren Fensterrahmen, innen verfault irgendwelcher Unrat: alte Stofffetzen, Reste von Möbelstücken und anderer kaum noch identifizierbarer Müll. Der Schimmelpilz kriecht die Wände empor und leuchtet selbst in den schummrigen Baracken, auf die die hohen Buchen ihre dunklen Schatten werfen, noch in einem kräftigen Grün. Mitten auf einer Lichtung zwischen den maroden Häuschen bleibt Manuel stehen und blickt sich um. „Hier habe ich gewohnt“, ruft er, und zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf eine der morschen Hütten. Und dort, Manuel kichert vor sich hin, dort habe er damals ein Nümmerchen mit Marita* geschoben. Das sei eine heiße Affäre mit Marita gewesen, die ebenfalls zur westdeutschen Gruppe gehört habe, verrät der Sozialarbeiter mit zufriedenem Grinsen.
*Name geändert

Feuer unterm Kessel
Ein schmaler Waldweg führt zu einem abseits gelegenen Backsteingebäude. „Das war der Waschraum“, sagt Manuel. „Es soll aber keiner glauben, dass hier einfach so geduscht werden konnte“. Dazu habe erst der Kessel aufgeheizt werden müssen, „eine aufwändige Sache“, erzählt er. „Das mussten wir vorher anmelden, die Kinder durften vielleicht ein bis zweimal in der Woche unter die heiße Brause“. Durch die leeren Fensterhöhlen fällt der Blick in hohe Räume, die von mehreren Kupferrohrgestängen mit klobigen Duschköpfen durchzogen werden. „Sieht noch aus wie früher“ meint der ehemalige Pionierleiter, „da kam ein dicker Wasserstrahl raus“. Für die Duschen sei der Heizer zuständig gewesen. „Wer mit ihm gut konnte, hat auch mal einen Sondertermin bekommen“, erzählt Manuel. „Der hat immer gesagt, dass er die DDR hasst“, berichtet er weiter, „aber mich mochte er, obwohl ich von der Sache überzeugt war“. Einmal, nachts, habe der Mann sogar für ihn und Marita extra Feuer unterm Kessel gemacht, sagt Manuel und lächelt frivol.

„Friedenssachen waren immer Thema“
Wie alle Kinderferienlager in der ehemaligen DDR war auch das in Friedrichsbrunn einem größeren Betrieb angeschlossen, in diesem Fall dem Eisen- und Hüttenwerk Thale. In den Feriencamps sollte die sozialistische Erziehung, so wollte es die SED-Führung, konsequent fortgesetzt werden. Ein Frontalangriff auf die politische Meinung der westdeutschen Kinder sei das in Friedrichsbrunn jedoch nicht gewesen, sagt Manuel. „Klar, es gab auch Veranstaltungen mit politischem Inhalt. So Friedenssachen waren natürlich immer Thema“. Außerdem habe man die Disziplin, Zimmer aufräumen und so weiter, vielleicht etwas übertrieben. „Ich glaube aber, im Großen und Ganzen war das Ferienlager für die Kids schon eine tolle Sache“, sagt er. Er sei ja auch relativ locker gewesen, jedenfalls lockerer als die strengen Parteisoldaten. „Den formellen Kram habe ich eigentlich immer abgelehnt. Deshalb hatten die Kinder auch mehr Freiheiten“. Zehn Jahre später habe sich noch mal ein ehemaliger Teilnehmer gemeldet und von diesen Ferien geschwärmt.

Kein Wendehals
Wendehälse wurden jene genannt, die nach dem Zusammenbruch der DDR ihre politische Meinung plötzlich um 180 Grad drehten. Zu ihnen gehört Manuel nicht, obwohl auch er schon seit langem aus der Deutschen Kommunistischen Partei ausgetreten ist. „Ich bin ja immer noch der Überzeugung, den Versuch war es Wert, ein anderes Gesellschaftssystem auszuprobieren“, meint er. „Gut, das ist ja nun nichts geworden, von daher kann man rückblickend sagen, dass die Sache letztendlich doch falsch gelaufen ist“. Natürlich sei die Meinungsfreiheit nicht immer respektiert worden, sei den Leuten vorgeschrieben worden, was sie zu denken haben. „Aber ich habe größtenteils keine verschüchterten Menschen kennen gelernt, sondern sehr offene und mutige. Also, dass da nun alle kuschten, so ist es ja auch nicht gewesen“. Manuel blickt gedankenversunken vor sich hin: „Dass wir einer der letzten Jahrgänge im Ferienlager sein würden, das hat damals keiner für möglich gehalten“. Solche Prognosen wären als imperialistische Propaganda eingestuft worden, sinniert er. Vom ehemaligen Ferienlager aus führt der Weg eine kleine Anhöhe hinauf und über eine Wiese nach Friedrichsbrunn hinein. Manuel erkennt das Eiscafe im Stadtzentrum wieder, das es damals auch schon gegeben hat. „Das war eine schöne Zeit hier“, sagt er. Dass dieses Ferienlager immer noch existiere, habe ihn schon sehr erstaunt, obwohl es jetzt nur noch eine Ruine sei.
Die Affäre mit Marita übrigens, war nach den Ferien in Friedrichsbrunn auch vorbei.

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*Name geändert

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