José Ramón Morán – ein Mystiker auf dem Pilgerweg von Licht und Klang

Singe, brenne, lebe!

Es ist der 21. September 2012 in der alt-katholischen Kirche St. Maria Angelica in Hannover: Kerzen werden entzündet und spenden dem halbdunklen Kirchenraum von überall her ihr funkelndes Licht. Vorn, neben dem Altar, stimmt einer mit lauter und klarer Stimme den Lichthymnus an und zieht die Anwesenden sofort in seinen Bann. „Du Licht vom Lichte, in Liebe leuchtest du, Jesus Christus.“

Der Mann vorn neben dem Altar heißt José Ramón Morán, von den meisten einfach José genannt, und er feiert hier aus Anlass der Langen Nacht der Kirchen mit den Alt-Katholiken und ihren Gästen das Lucernarium, die Lichtfeier. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich José mit alt-kirchlicher Musik und Liturgie, und so hat er auch den Lichthymnus vor Jahren in einem französischen Kloster wieder entdeckt, wo er von dem Dominikaner-Mönch André Gouze neu vertont worden ist. Die Lichtfeier gehört zu den ältesten Abendgebetsformen überhaupt. Sie wurde in frühkirchlicher Zeit täglich beim Untergehen der Sonne gefeiert.

Eine Mysterienfeier

Auch die Alt-Katholiken kennen den Lichthymnus. José hat sich gefreut, als er ihn in der Fassung von André Gouze im alt-katholischen Gesangbuch entdeckte. Doch Josés Lucernarium enthält noch mehr. Eineinhalb Stunden dauert dieser Gottesdienst, der angefüllt ist mit Gesängen ostkirchlichen Ursprungs, Marienliedern aus westlich-katholischer Tradition, Elementen der jüdischen Mystik und gregorianischem Gesang. Im Vordergrund steht dabei – neben dem Klang – immer das Licht als Symbol der brennenden Liebe Gottes im Menschen. „Wäre nicht dieses innere Feuer, diese innere Liebe im Menschenherz, dann würde das Leben sterben“, sagt José. „Singe, brenne, lebe! Dein Licht ist nötig“, so lautet denn auch seine Maxime. Es ist die österliche Botschaft vom Licht des auferstandenen Jesus Christus, das in der dunklen Nacht für und in uns entzündet wird: „Das Lucernarium ist das Feuer des Ostermorgens.“ Diese Botschaft will José den Menschen nahebringen. Der Mensch müsse getragen werden durch das innere Feuer: „Darum ist die Lucernarium-Liturgie eine Mysterienfeier, die in das Herz geht. Weil, das Leben ist Feuer.“
Nicht nur für Christen gelte dieses Prinzip, sagt José: „Wo das innere Licht nicht ist, ist keine Orientierung mehr.“ Der Mann ist ein Mystiker, dem es um das Entfachen des göttlichen Funkens in jedem Menschen, um das Erleben der christlichen Befreiungsbotschaft tief in uns selbst, um das Sich-ergreifen-Lassen von der Liebe Gottes geht: Singe – brenne – lebe! Dein Licht ist nötig.

Auf Wanderschaft

José Ramón Morán, geboren 1955 in der spanischen Stadt León, kam mit neun Jahren in ein Internat des Dominikanerordens, machte dort sein Abitur, trat dem Orden bei und begann schließlich Theologie und Philosophie zu studieren. Im Alter von 24 Jahren durchlebte er eine Krise. Es war, „als sei ich vom siebten Stock plötzlich in der Keller gefallen“, sagt José. Sein Leben erschien ihm plötzlich völlig vorgezeichnet, wie ein Tunnel, das nur in eine Richtung verlaufe, und an dessen Ende man nichts anderes gesehen habe. Doch „Jesus sagt, seid ihr selbst“. Um das für sich selbst zu bestätigen, habe er gehen müssen.
In dieser Zeit nahm gerade die Ära des spanischen Franco-Regimes ihr Ende. Der ehemalige Dominikanermönch Morán konnte daher zusammen mit andern Wehrdienstverweigerern einen sozialen Zivildienst organisieren. Er selbst arbeitete im südspanischen Sevilla mit Alkoholabhängigen.

Seither hat er sich immer wieder auf die Wanderschaft begeben. Mehrmals pilgerte er auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela, wanderte auf den Pfaden des Hl. Franziskus nach Assisi und unternahm darüber hinaus zahlreiche Pilgerreisen nach Jerusalem und dem Mittleren Osten. Und immer brachte er von seinen Reisen sakrale Gesänge und Lieder aus der jeweiligen örtlichen Tradition mit, die er oft nur mündlich überliefert bekam. José bezeichnet sich heute als einen singenden und tanzenden Pilger. Seinen Lebensweg versteht er als Pilgerweg, bei dem es darum geht, das innere Feuer immer wieder zu erneuern und lebendig zu halten.
Nach längeren Aufenthalten in Frankreich und Spanien lebt er nun seit circa 20 Jahren in Deutschland. Sein derzeitiger Wohnort ist ein denkmalgeschütztes Bauwerk in Bardowick bei Lüneburg. Von hier aus arbeitet er an seinen Liturgie-Projekten und feiert das Lucernarium regelmäßig in Hamburger Kirchen, insbesondere in der Hamburger Michaeliskirche, im Volksmund Hamburger Michel genannt. Außerdem leitet er Veranstaltungen zu den Themen Liturgie, spiritueller Tanz und Gesang und arbeitet an interreligiösen Projekten mit, beispielsweise zusammen mit einem islamischen Sufi-Musiker.

Die Welt ist Klang

Die Grundlage seiner Begeisterung für die Musik und den sakralen Gesang ist während der Zeit im Kloster gelegt worden, das betont José immer wieder. Er denke daher in Dankbarkeit an seine Jahre dort zurück. Doch erst später in Frankreich habe er so richtig begriffen, dass Musik viel mehr ist als nur in Noten gefasste Melodien und Harmonien: „Die Welt ist Klang“, sagt er: „Im Johannesevangelium steht ‚Am Anfang war das Wort’. Aber das bedeutet viel mehr als nur das Wort, es ist ein Raum, ein energetisches Feld, es ist das lebendige Gotteswort, das in jedem Herzen wirkt“.

Dieser Bedeutung des Klangs als Urgrund der Welt spiegelt sich im Isongesang wider, der insbesondere in den Ostkirchen eine lange Tradition hat. José hat den Ison während der Kirchennacht bei den Alt-Katholiken mit praktischen Übungen vorgestellt. Der Ison ist ein sich wiederholender und lang gezogener Laut, der beim tiefen Ausatmen im Bereich der Kehle und des Rachens moduliert und als Bass-, Tenor- oder Altton in möglichst gleichbleibender Tonhöhe dem Gesang unterlegt wird. Zur Anwendung kommt er insbesondere im ostkirchlichen Choral. Im alt-kirchlichen Verständnis entspricht der Ison dem Zahlwert eins und ist Symbol für Gott, den Vater und gleichzeitig für den jungfräulichen Urgrund der Schöpfung, den Anfang allen Seins. Auf der Website des deutschen orthodoxen Dreifaltigkeitsklosters Buchhagen können wir dazu lesen: „In dem, was in ihm spürbar mitschwingt, ist er Symbol der dritten Gestalt der Gottheit, des Heiligen Geistes.“ (Quelle: http://orthodox.de/symbolik.php)
All das ist gemeint, wenn José sagt, dass der Klang gewissermaßen die gesamte Schöpfung ausdrücke und in unseren Herzen wie ein geheimnisvolles Licht wirke.

Aus der Schatzkiste der Liturgietradition

Nicht überall, erzählt José, werde er verstanden. Auf seine unnachahmliche Weise bringt er zum Ausdruck, dass er mit seiner Liebe zur altkirchlichen Liturgie manchmal für „altbacken“ gehalten werde. José Ramón Morán erfindet nichts Neues, vielmehr ist er ein Suchender, der aus der Schatzkiste einer über 1000-jährigen Geschichte der Liturgie und der Musik schöpft. Jedes Jahr fahre er für eine gewisse Zeit in ein ostkirchliches Kloster. Die ganze Liturgie „gleitet durch den Klang, ich sitze stundenlang dort, verstehe kein Wort, aber ich werde berührt, es dringt in die Seele.“ Heute gehe häufig alles durch die Augen, sei nur visuelle Vernunft, Anschauung. Man tausche das Wahre oft ein gegen Showeffekte.

José sagt es nicht direkt, aber seine Kritik kann auch verstanden werden als Kritik an einer oberflächlichen Eventhaftigkeit und Verkopfung, die mancherorts Einzug in das kirchliche Leben und in den Gottesdienst gefunden haben und sich einer mystischen Erfahrung in den Weg stellen. Doch auf keinen Fall will José seine Worte als Kritik an einer Konfession verstanden wissen. Wir Menschen mit unseren Identitätsansprüchen seien es, die Dogmen schaffen und sich damit gegenüber anderen abgrenzen, sagt er. „Jesus Christus schafft keine Grenzen, wir schaffen Grenzen.“ Stattdessen sollten wir lieber zusammen in mystische, spirituelle Tiefen vordringen, hebt er hervor und zitiert den großen Theologen Karl Rahner: „Die Kirche der Zukunft wird mystisch sein – oder sie wird nicht mehr sein.“ „Deswegen ist es wichtig“, sagt José, „diesen brennenden Atomkern des christlichen Glaubens zu lehren.“ Wie im Lucinarium: die Erleuchtung, das innere Licht, das jedem innewohnt aber entdeckt werden muss. Singe, brenne, lebe!

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