So manch alte Vinyl-Scheibe staubt noch auf Dachböden oder in den Regalen einer Abstellkammer vor sich hin, während der Zahn der Zeit längst unerbittlich an den musikalischen Vorlieben ihres einstigen Käufers genagt und sie dem Vergessen preisgegeben hat. Doch manchmal mag er sich wage an den Sound seiner Jugend erinnern, um schließlich, neugierig geworden auf das Alte, die Suche aufzunehmen. Und siehe da: Welche geniale Wiederentdeckung.
Meine jüngste Wiederentdeckung (und CD-Nachbestellung) war das Album „Live Dates“ der englischen Rockband „Wishbone Ash“. 1969 von Martin Turner und seinem Bruder Glen gegründet, hatte die Band schon einige recht erfolgreiche Studio-LPs auf den Markt gebracht, als sie 1973 mit einem – zu dieser Zeit für viele Gruppen obligatorischen ¬– Live-Album an den Start ging. Glen Turner war inzwischen schon nicht mehr dabei, gekommen waren Andy Powell und Ted Turner an den Lead-Gitarren – letzterer übrigens nicht verwandt mit Bassist Martin. Eigentlich hatte die Band einen Keyborder gesucht, sich dann aber nicht zwischen den Gitarren-Männern Ted und Andy entscheiden können, was sich schon bald als Glück erwies: Denn insbesondere das Zusammenspiel der beiden Lead-Gitarristen als Frontmen-Truppe hat den Sound von Wishbone Ash so unverwechselbar gemacht. Dabei ließ die Band gerade während ihrer Live-Auftritte so richtig die musikalische Sau raus, und daher gehört „Live Dates“ zum Besten, was Wishbone Ash im Laufe der Jahre produziert hat. Ein Muss für alle, die zu den Freunden des sogenannten Art-Rocks der 1970er Jahre gehören.
Unverwechselbarer Sound
Messianische Umwälzungs-Utopie
Mit „The King Will Come“ und „Warrior“ bringt die Band gleich zum Einstieg zwei ihrer erfolgreichsten Stücke zu Gehör. Die tragende Stimme Martin Turners erinnert dabei in ihrer balladenhaft-erzählerischen Intonation an die des Yes-Sängers Jon Anderson. Turner transportiert in seinem Gesang Botschaften, die mitunter einen unüberhörbar christlichem Background haben: „The King Will Come“ kann als messianische Umwälzung-Utopie, vielleicht sogar als Vision und Warnung vor einem Jüngsten Gericht verstanden werden: „In the fire, the king will come / Thunder rolls, piper and drum,/ Evil sons, overrun, / Count their sins – judgement comes.
Der unverwechselbare Wishbone Ash Sound
Den unverwechselbaren Wishbone Ash-Sound haben aber vor allem die gemeinsamen, mehrstimmigen Gitarrenimprovisationen von Andy Powell und Ted Turner geprägt. Auf diesem Live-Album zeigen die beiden Frontmen, was sie drauf haben. Sich gegenseitig inspirierend, puschen sie sich zu Höchstleistungen auf, mal im langsamen balladesken Duett, mal in schnellen Kollektivimprovisationen oder auch in langen sich abwechselnden Solo-Chorussen, wie etwa im letzten Stück des Albums, Phoenix. Wishbone Ash begeistert durch anspruchsvollen Sound, perfekte Kommunikation der beiden Gitarristen, melodiösen Gesang mit interessanten Texten und manchmal fast swingenden Schlagzeugbeiträgen. Und nicht zu vergessen: Statt einem kreischenden Geräusch-Brei wie bei so manch anderer Hardrock-Band, bietet Wishbone Ash einen sauber ausgesteuerten Gruppenklang.
Gelungener Crossover
Dabei stellt das Album „Live Dates“ vielleicht den Höhepunkt der kreativsten Schaffensphase der Band da. Die zwischen 1969 und 1973 produzierte Musik hat nicht nur Rockfans begeistert, sondern auch Freunde unter den Anhängern des seinerzeit populären Jazzrocks gefunden. Einige Elemente dieser Musik könnte man heute als gelungenes „Crossover“ mit Zutaten aus Folk, Rock und Jazz-Rock bezeichnen, dieser Begriff war aber in den Siebzigern noch nicht sehr verbreitet.
Manches bis heute unerreicht
Wishbone Ash gehörte zu den Gruppen, die mit ihrem Art-Rock der populären Musik zu mehr Anerkennung als ernstzunehmende Kunst verhelfen wollten. Nach dem Erscheinen von „Live Dates“ verließ Ted Turner die Gruppe. Danach wurde der Sound teilweise etwas ungeschliffener. Dennoch hat die Band bis dato immer wieder hörenswerte Comebacks hingelegt.
Wenn ich alte Aufnahmen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts höre, bin ich übrigens immer wieder erstaunt, was für eine kreative Zeit das damals war. Vieles ist bis heute absolutes Vorbild, und manches bleibt bis heute unerreicht.
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