Philosophische Ouvertüre des Turbokapitalismus
Gäbe es keine Religion mehr, so wären die wesentlichen Probleme der Menschheit gelöst, suggerieren Neoatheisten wie Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder der Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung, Michael Schmidt-Salomon. Religionskritik ist hip. Zu denen, die sich eine bessere „Welt ohne Gott“ ausmalen, gehört auch die Schriftstellerin Karen Duve, die vor einiger Zeit in einem gleichnamigen Spiegelessay ihr neoatheistisches Bekenntnis ablegte: Über allem neukirchlichen Ringelpiez wie Familienfreizeiten und Motorradgottesdiensten, so Duve „dürfe man nicht vergessen, dass die Kirche über Jahrhunderte hinweg auf barbarische Weise Frauen unterdrückt, Minderheiten verfolgt und die Forschung behindert“ habe. Allein die intellektuelle Redlichkeit verböte es, einer Weltanschauung anzugehören, die sich die Welt gar nicht richtig anschaue, meint Karen Duve.
Bestgepflegte Mythen der Neuzeit
Nach Auffassung von Neoatheisten wie Karen Duve lebt in den Kirchen das sogenannte finstere Mittelalter mit seiner vermeintlichen Wissenschaftsfeindlichkeit, seinen Scheiterhaufen und Hexenverfolgungen quasi ideell weiter, im Zaum gehalten nur durch die mittlerweile halbwegs durchgesetzte Säkularisierung. Aber stimmt es wirklich, dass die christlichen Kirchen jahrhundertlang Forschung und Erkenntnis in ihrem Machtbereich gefürchtet und unterdrückt haben? Warum sind dann gerade hier die Wissenschaften zu einzigartiger Blüte gelangt. Hätten nicht Gesellschaften wie etwa die chinesische, in der es keinen vergleichbaren monotheistischen Glauben gegebenen hat, in ihrem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand und in ihrer gesellschaftlichen wie ökonomischen Entwicklung viel weiter sein müssen als der christliche Westen?
Die vermeintliche Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche und die Mär vom finsteren Mittelalter gehören zu den bestgepflegten Mythen der Neuzeit. Karen Duve und andere Neoatheisten tun so, als sei ein unumstößliches historisches Faktum, was viel eher ihre eigene Interpretation und kaum haltbare Deutung historischer Ereignisse ist. Die Chinesische Akademie der Wissenschaften etwa kam im Jahr 2002 zu einer recht erstaunlichen Schlussfolgerung. Dort hatte sich eine Arbeitsgruppe viel Zeit genommen, um den Gründen für die wissenschaftliche und mithin auch ökonomische Dominanz des Westens auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis lautete schließlich: „Die christliche Moral als Grundlage des sozialen und kulturellen Lebens hat das Aufkommen des Kapitalismus und anschließend den erfolgreichen Übergang zu demokratischer Politik ermöglicht. Daran besteht aus unserer Sicht kein Zweifel (Zitiert nach Tipler 2007, 177).“ Das Christentum war demzufolge nicht Hemmnis sondern geradezu Voraussetzung des wissenschaftlichen Fortschritts, der die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft ermöglichte und in jenen Zustand mündete, der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als die Dialektik der Aufklärung bezeichnet worden ist.
Der Fall Galilei
Die traditionelle christliche Vorstellung vom Aufbau des Universums war mithin weitaus widersprüchlicher, als neoatheistischen Positionen derzeit nahe legen. Im 16. Jahrhundert hat der fromme Domherr und Forscher Nikolaus Kopernikus auf den Umstand hingewiesen, das die Erde sich um die Sonne drehe und daher nicht, wie bisher angenommen, Zentrum des Universums sei. Die Kirche hatte gegen diese Erkenntnis erst einmal nichts einzuwenden. Seit 1561 wurde etwa an der spanischen Universität Salamanca parallel zu der traditionellen ptolemäischen Theorie auch die kopernikanische gelehrt. Als Galileo Galilei Anfang des 17. Jahrhunderts die kopernikanische Erkenntnis als seine eigene verkaufte, wurde ihm nicht die Erkenntnis als solche zum Anlass von reichlich Ärger. Was ihm die Kurie nicht nachsah war der Umstand, dass er daraus gleichsam theologische Schlüsse ziehen wollte. Ungern nur ließen sich Papst und Klerus im eigenen Zuständigkeitsbereich belehren. Galilei hatte es zuvor im Vatikan zu hohem Ansehen gebracht. Wissenschaftsfeindlich war die katholische Kirche bis dato nicht. Mit ihrem Verbot der Lehre Galileos hat sie sich allerdings nachhaltig gerade jenem Verdacht ausgesetzt. Damit legte sie den Grundstein für die These, dass ein prinzipieller Widerspruch zwischen Christentum und Wissenschaft bestehe. Den Gegnern des Christentums wurde damit ausreichend Stoff für nicht immer besonders reflektierte Polemiken geliefert, derer sie sich bis heute ungeniert bedienen.
Die Klöster – Orte der Gelehrsamkeit
Genau besehen jedoch hat kaum eine andere nicht-wissenschaftliche Institution Forschung und Wissenschaft so sehr gefördert wie die katholische Kirche des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Viele Klöster dieser Epoche waren Orte der scholastischen Gelehrsamkeit, in denen nicht zuletzt auch auf der Grundlage griechischer Philosophie gestritten und nachgedacht wurde. Aus dieser monastischen Gelehrsamkeit erst haben sich später die Universitäten als eigenständige Institutionen für Lehre und Forschung entwickelt. Wissenschaften benötigen Schutz und Muße, und den größten Raum dafür boten die geistigen christlichen Gemeinschaften. Allmählich schälte sich aus ihnen ein eigener wissenschaftlicher Lebenskreis heraus. So wurden gerade die Orte der Abkehr vom Weltlichen zu Keimzellen des nicht zuletzt weltlichen Fortschritts. Thomas von Aquin etwa, der große christliche Theologe und Gelehrte des Mittelalters, sprach von zwei Büchern der Offenbarung Gottes: der christlichen Bibel, welche die Worte Gottes in Griechisch und Hebräisch enthalte, und der Natur selbst, in der Gott seine Werke in der Sprache der Mathematik verfasst habe. Diese Sprache zu entschlüsseln sahen christliche Gelehrte als ihre Aufgabe an.
Das Christentum ermutigte und ermutigt auch heute noch zur Suche nach den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Welt. Diese Auffassung vertritt auch der Physiker Frank J. Tipler: Der christliche Glaube lehre, dass Gott die Welt mit unveränderlichen Naturgesetzen erschaffen habe. Nach christlicher Vorstellung ist wissenschaftliche Erkenntnis daher grundsätzlich möglich und erstrebenswert, sagt Tipler. Das Christentum mit seiner Idee eines unveränderlichen, aus einem unwandelbaren Gott hervorgehenden Naturgesetzes sei für die Entstehung der modernen Wissenschaften geradezu entscheidend gewesen, so die Auffassung des Physikers (Tipler 2007, 166ff).
Hexenverfolgung – ein Phänomen der frühen Neuzeit
Spätestens an dieser Stelle wird von alten und neuen Religionskritikern auf die unter christlichem Vorzeichen begangenen Hexenverfolgungen verwiesen. In der Tat gehören sie zu den größten Menschheitsverbrechen einer zur Ideologie und zum Aberglauben pervertierten Weltanschauung. Allerdings waren die Hexenverfolgungen im Wesentlichen kein Phänomen des Mittelalters. Sie zählen eher zu den Sünden der Neuzeit, genauso wie der unter den Vorzeichen der aufklärerischen Moderne stehende jakobinische Terror während der französischen Revolution, die menschheitsgeschichtlich einmaligen industriell durchgeführten Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten, die stalinistischen Massenmorde oder die Massaker des pseudokommunistischen Pol-Pot-Regimes in Kambodscha. Letztere ereigneten sich unter dem Einfluss autoritärer, tendenziell atheistischer Ideologien. Die Entwicklung der Moderne hat Berge von Leichen hinterlassen. Und die im Namen einer Religion auf dem Scheiterhaufen verbrannten Frauen (und Männer) gehören genauso dazu wie die Toten der kambodschanischen Killing Fields, die von einer brutalen Diktatur mit atheistischem Anstrich ermordet wurden. „Die weit verbreitete Meinung, Hexenverfolgungen seien hauptsächlich eine Erscheinung des Mittelalters gewesen, ist historisch ebenso falsch wie die Meinung, die großen Wellen neuzeitlicher Hexenverfolgung seien vorrangig von der kirchlichen Inquisition angestrebt oder ausgeführt worden“, ist im bekannten Internet-Lexikon Wikipedia nachzulesen. (Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung). Das Leben der Menschen im Mittelalter mag beschwerlich, kurz, sowie von Ungleichheit und Gewalt geprägt gewesen sein, aber: Hexen wurden im Mittelalter nicht verbrannt. Den Glauben, es gebe Hexerei, hat man bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zumindest unter den geistlichen Eliten für das gehalten, was er ist, nämlich Aberglaube. In der päpstlichen Practica Inquisitionis wurden die örtlichen Protagonisten der Heiligen Inquisition strikt angewiesen, die Hände von vermeintlichen Hexen zu lassen.
Das Unheil nahm, wie nicht selten in der Geschichte, ausgehend von Deutschland seinen Lauf. Während sich die Inquisition in den lateinischen Ländern bereits zu einer stattlichen Institution entwickelt hatte, dümpelten ihre Filialen in den deutschen Fürstentümern vor sich hin. Der „ganz normale deutsche Inquisitor hat keinen Schreiber, keinen Notar, nicht einmal ein Faktotum. Er hat überhaupt kein Büro“, schreibt der ehemalige Dominikaner und langjährige WDR-Redakteur Hans Georg Zander. „Was aber tut ein Inquisitor ohne Büro? Statt echte Ketzer zu verbrennen, versucht sich der eine oder andere in einem wohlfeilen Ablenkungsmanöver, nämlich in der feigen Verfolgung von Beghinen, harmlosen Frauen, die nach spiritueller Selbstverwirklichung streben“ (Zander 2007, 55). Der vor sich hin dümpelnden Verfolgungsbehörde auf die Sprünge zu helfen, fühlte sich insbesondere ein deutscher Dominikaner namens Heinrich Kramer berufen, der, unausgelastet mit der Bekämpfung der ohnehin in Deutschland wenig verbreiteten Ketzerei, nun nach anderen Hassobjekten suchte und sich dabei auf allerlei im Volk kursierenden Aberglauben stützen konnte. Seine Schrift „Hexenhammer“, der „Malleus Maleficarum“ aus dem Jahr 1486, in der er minutiös die vermeintlichen Umtriebe und Orgien der Hexen beschrieb, wurde mithilfe des gerade aufkommenden Buchdrucks zum Bestseller. Das Unheil nahm seinen Lauf und ein aufgehetzter Mob fegte im 16. und 17. Jahrhundert mordbrennerisch über halb Europa hinweg, gestoppt erst an den spanischen Grenzen durch die dortige Heilige Inquisition. Die nämlich fühlte sich beharrlich den Anweisungen der Practica Inquisitoris verpflichtet. Wiewohl der Aberglaube im gemeinen Volk in Spanien wohl nicht weniger verbreitet gewesen sei als in Deutschland, so Zander, „ist es eine historische Tatsache, dass mit dem Hexenwahn aus Deutschland, als er sich über Frankreich verbreitete, an den Pyrenäen Schluss war. Am spanischen Charakter lag das nicht. Am Zufall noch viel weniger. Eine ganz präzise Maßnahme hat Spanien den deutschen Hexenwahn erspart: Die Inquisition war an den Pyrenäen beizeiten eingeschritten und hatte dem wahnsinnigen Import beizeiten ein drastisches Ende bereitet“ (Zander 2007, 59). Inquisition war mithin beileibe nicht gleich Inquisition. Um die Rolle des Christentums in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften, der Wissenschaften und der Aufklärung zu erhellen, ist ein unvoreingenommener analytischer Blick vonnöten. Das ist genau jene Tugend, die Karin Duve und andere Neoatheisten fordern. Indes zählt Meinung mittlerweile oft mehr als Erkenntnis – eine Auswirkung nicht zuletzt des zunehmenden Opportunismus in den Sozial- und Geisteswissenschaften.
Die Kapitulation der Geisteswissenschaften
Spätestens seit dem Durchmarsch der Postmoderne in den Geisteswissenschaften ist es megaout, von einem Sinn in der Entwicklung der sozialen Organisation menschlichen Zusammenlebens und der Gesellschaft auszugehen. Insofern ist die studierte Geisteswissenschaftlerin Karin Duve voll im Trend. Als Kronzeugen zieht die Schriftstellerin den Philosophen Michael Schmidt-Salomom heran. Schmidt-Salomon vertritt die Auffassung, der Homo Sapiens sei ein „unbeabsichtigtes, kosmologisch unbedeutendes und vorübergehendes Randphänomen eines sinnleeren Universums“ (Zit. nach Duve: Duve, Karin: Welt ohne Gott. In: Der Spiegel, Nr. 14 vom 30.03.2009. 142).
Michael Schmidt-Salomon und Karen Duve sind Kinder der postmodernen Geisteswissenschaften. Die Postmoderne hat das Ende der großen Erzählungen der Moderne verkündet. Gleichzeitig versprach sie die Befreiung der Individuen aus dem Gefängnis der kollektiven Identitäten. Letztlich wurde damit auch das Ende der Utopien eingeläutet, das Ende des auf eine bessere Zukunft der Menschheit gerichteten Sinns menschlicher Tätigkeit und menschlichen Strebens. Die Leerstelle, die der Postmodernismus damit hinterlassen hat, füllte sich inzwischen mit einem schon fast überwunden geglaubtem Vulgärpositivismus. Hier hat nur noch Platz, was gezählt, vermessen, gewogen, sprich irgendwie quantifiziert werden kann. Insofern war die Postmoderne nicht zuletzt die philosophische Overtüre der neoliberalen Zurichtung der Gesellschaft. Seither gilt die Annahme irgendeines Sinns der menschlichen vernunftbegabten Existenz und der sozialen Entwicklung hin zu einer befreiten Gesellschaft, wie wir sie etwa noch bei Marx finden, bereits als religiöses Hirngespinst. Dabei fängt doch die moderne Physik gerade erst damit an, nach dem Wesen hinter den Erscheinungen zu suchen, eine Suche, die in den postmodern gleichgeschalteten Geisteswissenschaften ad acta gelegt wurde. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben ihr kritisches und utopisches Potenzial weitgehend aufgegeben? Die Suche nach dem Wesen der Dinge oder überhaupt schon die Frage, ob es ein hermeneutisch erfassbares Wesentliches gibt, bleibt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend den Naturwissenschaftlern überlassen.
Der Plan Gottes
Zu den Wissenschaftlern, die nach dem großen Wurf, dem Sinn oder Unsinn hinter den Erscheinungen, suchen, gehört beispielsweise der Astrophysiker und Harvardprofessor Stephen Hawking. Am Ende seines zum Bestseller gewordenen Buches „Eine kurze Geschichte der Zeit“ muss der Physiker das Scheitern eines seiner wichtigsten wissenschaftlichen Anliegen eingestehen. Hawkings wollte Quantentheorie und Relativitätstheorie in einem großen Wurf vereinen, eine Theorie, mit der die Notwendigkeit eines Beginns des Universums und mithin eines Schöpfungsaktes obsolet wird. Hawkings schrieb: „Leider sind beide Theorien nicht miteinander in Einklang zu bringen. Eine der Hauptanstrengungen der heutigen Physik gilt der Suche nach einer neuen Theorie, die beide Teiltheorien enthält – nach einer Quantentheorie der Gravitation. Über eine solche Theorie verfügen wir bislang nicht, und möglicherweise sind wir noch weit von ihr entfernt, aber wir kennen bereits viele Eigenschaften, die sie aufweisen muss (…) Wenn wir jedoch eine vollständige Theorie entdecken, dürfte sie nach einer gewissen Zeit in ihren Grundzügen für jedermann verständlich sein, nicht nur für eine Handvoll Spezialisten. Dann werden wir uns alle – Philosophen, Naturwissenschaftler und Laien – mit der Frage auseinandersetzen können, warum es uns und das Universum gibt. Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft, denn dann würden wir Gottes Plan kennen.“
Der letzte Satz mag eine Metapher sein. Allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass gerade Physiker immer wieder gern über die Themen Plan und Gott spekulieren. Warum muss sich das Universum überhaupt dem Ungemach seiner Existenz unterziehen, fragt Hawking, und wer bläst den Gleichungen, mit denen sich die Naturgesetze berechnen lassen, den Odem ein und „erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können“?
Die Frage nach einem dem Kosmos innewohnenden intelligenten Prinzip haben sich an einem gewissen Punkt fast alle berühmten Physiker gestellt, Hawkings Kollege Albert Einstein etwa, Begründer der allgemeinen Relativitätstheorie, glaubte zwar nicht an einen personalen Gott, der sich in das Leben des einzelnen Menschen einmischt. Trotzdem offenbarte sich für Einstein in der Harmonie der Naturgesetzlichkeit eine überlegene Vernunft (Dr. Karin Stadtmüller: Physiker und Religion. Vortrag bei RC Ulm/Neu-Ulm am 11.11.2004. 5. URL:http://www.rotary1930.org/clubberichte/2004-2005/-Clubberichte-2004-2005.php. 5).
Für Max Planck bedeutete das Forschen nichts weniger als eine Annäherung an Gott, er empfand die Gesetzmäßigkeit der Natur als Ausdruck einer göttlichen Ordnung. Die Grundkonstanten der physikalischen Gesetze weisen seiner Meinung nach auf eine vom Menschen unabhängige vernünftige Weltordnung hin (Stadtmüller, 6). Nach Auffassung des Physikers Werner Heisenberg steht im Zentrum der Naturwissenschaft, insbesondere der Physik, nicht das materielle Ding, sondern die mathematische Symmetrie: Und da die mathematische Struktur letzten Endes ein geistiger Inhalt ist, könne man mit den Worten aus Goethes Faust sagen: „Am Anfang war der Sinn (Stadtmüller, 6).“
Nach der postmodernen Kapitulation in den Geisteswissenschaften fällt also insbesondere den Physikern die Aufgabe zu, darauf hinzuweisen, dass wahr insbesondere auch das ist, was sich der unmittelbaren menschlichen Betrachtung und Vermessung entzieht. Genau das hat schließlich auch die kritische Theorie immer wieder betont. Nur der Alltagsverstand oder ein primitiver Positivismus meint noch, wahr könne nur sein, was wir sehen, beobachten, messen und unmittelbar zu erfassen vermögen. Nicht zuletzt die Physik kann sich ein Bild von der Wahrheit nur auf der Grundlage abstrakter Theorien machen. Auf die Frage, ob er an einen personalen Gott glaube, antwortete Heisenberg: „Darf ich die Frage auch anders formulieren? Dann würde sie lauten: Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, mit ihr so unmittelbar in Verbindung treten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? Ich verwende hier ausdrücklich dies so schwer deutbare Wort ‚Seele’, um nicht missverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit Ja antworten. (Stadtmüller 6)“
Nun beweisen diese Überlegungen namhafter Physiker nicht die Existenz Gottes, aber sie weisen doch auf den Sachverhalt hin, dass es – wie Heisenberg formuliert – eine „zentrale Ordnung des Geschehens“, eine höhere Ordnung der Dinge und mithin eine transzendente Dimension der Wirklichkeit gibt. Und transzendent sind bereits die Naturgesetze selbst, denen alle belebte und unbelebte Materie, alles Nichtmaterielle, Energetische und Informationelle unterworfen ist. Daher ist zu betonen: Nicht die Existenz einer übergeordneten Logik, einer höheren Ordnung ist strittig, strittig ist allein die Frage, ob ihr ein intelligentes Prinzip innewohnt und ob davon schöpferische und gestaltende Impulse ausgehen.
Kruder Positivismus
Die meisten Protagonisten der Aufklärung hätten diese Frage wohl bejaht. Der negative Gottesbeweis jedenfalls, wie ihn Dawkins zu erbringen versucht, war nie ihr Gegenstand, wie nicht zuletzt Max Horkheimer betont hat: „Der Angriff der englischen und französischen Aufklärung auf die Theologie geht in seinen mächtigsten Tendenzen keineswegs gegen die Annahme des Daseins Gottes überhaupt. Voltaires Deismus war gewiß nicht unaufrichtig. Er hat das Ungeheuere nicht fassen können, daß es bei der irdischen Ungerechtigkeit sein Bewenden haben sollte; die Güte seines Herzens hat dem schärfsten Verstand des Jahrhunderts einen Streich gespielt. Die Aufklärung bekämpfte nicht die Behauptung Gottes, sondern seine Anerkennung auf Grund bloßer Autorität. In letzter Instanz soll der Mensch seine eigenen geistigen Fähigkeiten gebrauchen und nicht von Autoritäten abhängig sein (Horkheimer 1975, 22)“.
Im Neoatheismus indes geht es kaum noch um die Zurückweisung bloßer Autorität und um die Kritik an Herrschaftsverhältnissen und ihren ideologischen Voraussetzungen, sondern vielmehr um einen kruden Positivismus, unter dessen Einfluss nur noch Quantifizierbares Bestand haben kann. Insofern ist die neoatheistische Religionskritik ein wahres Kind des Neoliberalismus, im Grunde ist sie dessen erkenntnistheoretische Begleitmusik. Bei genauerer Betrachtung dessen, was seine Protagonisten heute hervorbringen, scheint der Atheismus sich aus dem Kanon kritisch-analytischer Denkweisen verabschiedet zu haben. Von dem aufklärerischen Verve eines Horkheimer, Voltaire, Feuerbach oder Marx ist bei Dawkins, Duve und Schmidt-Salomon kaum etwas übrig. Diese Form des Atheismus kommt fatalistisch und oberflächlich plakativ daher. Sie hat keine aufklärerische Utopie, keine Alternative zum Bestehenden anzubieten. Ihr philosophisches Prinzip ist die Sinnlosigkeit. Sinnlosigkeit allerdings ist nicht aufklärerisch. Sie befreit nicht, sondern hält die Menschen gefangen in Depressionen und reinem Zynismus. Jedes endliche Wesen, das „als Letztes, Höchstes, Einziges sich aufspreizt“, werde zum Götzen, der Appetit nach blutigen Opfern habe, sagt Max Horkheimer. Heute sei allein die Wissenschaft wahr, weil man das Wahre mit dem Exakten verwechsele. Viele meinten, die einzige Vernunft sei eine instrumentelle, die gleichzeitig alle anderen aufhebe. (Horkheimer 1975, 7). Was der Verzicht auf die Vorstellung einer sinnvollen Ordnung aller Dinge bedeutet, versucht Horkheimer am Beispiel der Landschaftsbetrachtung zu verdeutlichen: „Wir können nicht behaupten, daß das Vergnügen, das ein Mensch etwa an einer Landschaft hat, lange anhielte, wenn er a priori davon überzeugt wäre, daß die Formen und Farben, die er sieht, bloß Formen und Farben sind, daß alle Strukturen, in denen sie eine Rolle spielen, rein subjektiv sind und keinerlei Beziehung haben zu einer sinnvollen Ordnung oder Totalität, daß sie einfach und notwendigerweise nichts ausdrücken (Horkeimer 2007, 51).“ Wenn alle Dinge an sich letztlich zufällig und sinnlos sind, kann ihnen eine Bedeutung überhaupt nur noch auf der subjektiven Ebene zukommen. Die Konsequenz daraus ist jene Verdinglichung aller Lebensäußerungen, wie sie sich mittlerweile recht flächendeckend in der Gesellschaft ausgebreitet hat. Kern dieser Verdinglichung ist ein Pragmatismus, der Ideen nur noch als solche überhaupt akzeptieren kann, insofern sie sich als unmittelbar nützlich erweisen. Die Kosten-Nutzen Rechnung ersetzt den Sinn und wird zum geistigen Credo einer letztlich auf den abstrakten Wert zugerichteten Gesellschaft. Jener Pragmatismus aber „spiegelt eine Gesellschaft wider, die keine Zeit hat sich zu erinnern und nachzudenken“, wie Horkheimer formuliert (Horkheimer 2007, 58). Unter solchen Voraussetzungen kann die Idee einer besseren Welt nicht einmal mehr formuliert werden. Nicht nur Religion, auch die Emanzipation des Menschen überhaupt, eine zentrale Forderung der Aufklärung, wird damit ad acta gelegt. Im Prinzip ist dieser Zustand geistiger Lähmung mittlerweile weitgehend erreicht worden und der Neoatheismus eines Dawkins nur eine seiner Emanationen.
Zweifel und Gewissheiten
Jeder Glaube, jede Weltanschauung muss zu hinterfragen sein. Das Problem ist nicht primär, dass die Neoatheisten an der Existenz universeller und das menschliche Bewusstsein transzendierender Intelligenz zweifeln. Das Problem ist, dass hier in geschichtsvergessener Art und Weise vereinfacht und so getan wird, als seinen letztlich alle Fragen hinreichend beantwortet, als sei mit allem empirisch Vorfindlichen eine letztgültige Wahrheit bereits vorhanden. Diese Art von Religionskritik will und kann nicht mehr aufklären und erklären, sie bedeutet letztendlich einen Rückfall in den Vulgärpositivismus des 19. Jahrhunderts. Sie wird damit schließlich selbst zu einer Ideologie.
Es sind in der Tat Zweifel angebracht gegenüber allem scheinbar Selbstverständlichem. Die Bejahung einer universellen Intelligenz wird vielleicht manchmal auch Zweifel einschließen. Und Zweifel sind dem christlichen Diskurs ja nicht grundsätzlich fremd. Schließlich sind sie nach neutestamentarischen Darstellungen sogar unter jenen bezeugt, die Jesus Christus am nächsten gestanden haben, unter seinen als Apostel bezeichneten Schülern.
Wer sich indes entschlossen hat, den Glauben an einen Gott für sich abzulehnen, sollte in seiner Argumentation zumindest redlich bleiben und hin und wieder auch den Zweifel an der eigenen Position akzeptieren können. Wie formuliert es Karin Duve: „Ein kultivierter Mensch zweifelt“. ©
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